Bundeskanzler Olaf Scholz

Bundeskanzler Olaf Scholz (© PUNCTUM / Stefan Hoyer)

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
liebe Freundinnen und Freunde der Stadt Leipzig aus dem In- und Ausland,
liebe Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Ereignisse des 9. Oktober 1989,
meine Damen und Herren,

es waren wacklige, teils unscharfe Bilder, die in den Tagen nach dem 9. Oktober 1989 über die westdeutschen Sender liefen. Auf den heimlich vom Turm der Reformierten Kirche aufgenommen Bildern von Aram Radomski und Siegbert Schefke waren einzelne Personen kaum zu erkennen. Was man aber erkennen, was man auf den Aufnahmen noch vielmehr hören konnte: Da sind Abertausende auf den Straßen von Leipzig gewesen.

Gute Nachrichten sind rar hier. Umso mehr freute ich mich, als – einige Stunden vor dem Grauen dieses Terrorangriffs – der Friedensnobelpreis verkündet wurde. Die iranische Bürgerrechtlerin Narges Mohammadi berichtet aus der Haft, dass sie und viele Frauen den Preis als Zeichen der Ermutigung feierten, mit Freudentränen in den Augen, dass sie lachten und Lieder sangen.

„Wir sind das Volk“. Es war ganz besonders dieser Satz, der fast ohrenbetäubend in den Himmel über Leipzig aufstieg, ein Satz gegen die Angst, der heute noch Gänsehaut auslöst, auch bei mir, dem Westdeutschen aus Hamburg, der heute auch Brandenburger aus Potsdam ist. Ein Satz, dessen Entschlossenheit ein ganzes System aus den Angeln hob. Eben noch schien die Mauer unüberwindbar; einen Monat später brachte das Volk sie zu Fall. Der 9. Oktober 1989 hat die Welt verändert. Die mutigen Bürgerinnen und Bürger in Leipzig haben an diesem Tag die Welt verändert.

Die Vorgeschichte des Tages reicht allerdings deutlich weiter zurück. Hier brach sich ein lange aufgestauter Fluss seine Bahn. Marianne Birthler hat eben davon berichtet. Opposition und Widerstand hatte es in der DDR immer gegeben, trotz Repression, auch nach dem brutal niedergeschlagenen Aufstand des 17. Juni 1953 und besonders seit Beginn der 1980er-Jahre. An vielen Orten in der DDR kamen immer neue Gruppen hinzu, aus den Kirchen, aus dem Umweltschutz, aus der Friedensbewegung. Das war Opposition. Das war Widerstand. Das war Mut.

Im Einzelnen hatten diese Gruppen sehr unterschiedliche Ziele. Den einen ging es vor allem darum, die unglaubliche Umweltzerstörung zu beenden, hier in Leipzig vor allem die extreme Luft- und Wasserverschmutzung. Andere wollten historische Städte vor dem völligen Zerfall retten. Viele verlangten das Ende von Indoktrinierung, Militarismus und Blockkonfrontation. Wieder andere und immer mehr wollten der DDR nur noch den Rücken kehren. Aber eines war ihnen allen gemeinsam. Sie wollten ein besseres Leben für alle Bürgerinnen und Bürger der DDR. Es ging ihnen darum, Unfreiheit, Angst und Stasiwillkür zu überwinden. Es ging ihnen um Würde.

Hier in Leipzig fanden all diese Motive am 9. Oktober 1989 zusammen. Hier verbanden sie sich zu einer einzigen mächtigen Bewegung: „Wir sind das Volk“. Hakt Euch alle unter! Gemeinsam sind wir stark. Zusammen werden wir dieses Land zum Guten verändern. Es war diese Überzeugung, dieses Gemeinschaftsgefühl, diese Botschaft der Zuversicht, die vom 9. Oktober ausging.

Viele Frauen und Männer, die damals aufstanden, sind heute wieder hier. Den heutigen Tag können wir feiern, weil Sie damals dabei waren. Sie haben die Welt verändert. Danke für Ihren Mut, meine Damen und Herren!

Wir sind das Volk. Es ist unerträglich, wie schäbig Populisten und Extremisten diese Worte heute missbrauchen. Sie sagen „wir“ und meinen „ihr nicht“. Sie sagen „Volk“ und meinen „Rasse“. Sie bekämpfen die Demokratie.

Der Widerspruch zur Freiheitslosung der Frauen und Männer des 9. Oktober 1989 könnte nicht größer sein.

Mich empört dieser Missbrauch, auch weil er den Mut von Bürgerinnen und Bürger in der DDR vor 35 Jahren verhöhnt. Denn diejenigen, die sich am 9. Oktober 1989 von der Nikolaikirche aus auf den Weg machten, sich vom Vorplatz langsam in Richtung der Universität und dann auf den Innenstadtring bewegten, sie hatten die Gerüchte gehört. Viele Lastwagen mit Bewaffneten waren nach Leipzig gebracht worden. Tausende Polizisten, Kampfgruppenmitglieder und NVA-Soldaten standen bereit. Medizinisches Personal wurde zu Spät- und Nachtschichten eingezogen. In den Krankenhäusern der Stadt waren Blutkonserven aufgestockt worden. Die chinesische Lösung stand im Raum. Das Tiananmen-Massaker war gerade erst vier Monate her.

Als die Bürgerinnen und Bürger an diesem 9. Oktober von den Holzbänken der Nikolaikirche aufstanden, wussten sie deswegen nicht, wie weit sie kommen würden. Sie wussten nicht, ob sie nachts wieder in ihren eigenen Betten liegen könnten oder ob sie auf dem kalten Asphalt, im Arrest, in der Notaufnahme enden würden. Und doch gingen sie los, jede und jeder Einzelne mit Furcht, zusammen aber mit unglaublichem Mut.

Was also für ein Hohn, was für eine unerträgliche Verachtung für den Mut der Protestierenden von Leipzig damals, wenn sich heute die Feinde der Demokratie auf den 9. Oktober berufen, um unsere Demokratie zu bekämpfen!

Meine Damen und Herren, der 9. Oktober 1989 war nicht nur der Kulminationspunkt einer deutschen, sondern auch einer europäischen Entwicklung. Was in Berlin, in Ungarn, in Prag in den Fünfziger- und Sechzigerjahren noch brutal niedergeschlagen worden war, war Ende der 1980er-Jahre an vielen Orten überall in Europa kaum noch aufzuhalten. Auf dem erwähnten Video vom 9. Oktober hört man auch laute „Gorbi, Gorbi“-Rufe. Denn es war auch Michail Gorbatschows Politik der Öffnung und Umgestaltung, es war die Politik von Glasnost und Perestroika, die die Möglichkeit einer friedlichen Veränderung in Europa überhaupt erst eröffnet hat.

Dem Umsturz in der DDR gingen die richtungweisenden Umbrüche in Ungarn und, getragen durch die Solidarność, in Polen voraus. Die Veränderungen in der DDR und der Tschechoslowakei liefen fast parallel – auch mit gegenseitiger Unterstützung. Ganz konkret war es das Paneuropäische Picknick in Ungarn im August 1989, das die Tür zum 9. Oktober schon einen Spalt breit aufgestoßen hatte. Es war zwischen Sopron und Sankt-Margareten im Burgenland, wo der „erste Stein aus der Mauer geschlagen wurde“, wie es Helmut Kohl 1990 formulierte.

Der Aufstand gegen die Unfreiheit, gegen Bevormundung, gegen Diktatur war immer auch ein europäischer Aufstand. Die Freiheit, die in Deutschland errungen wurde, haben wir auch unseren östlichen Nachbarn zu verdanken. Deshalb setze ich mich nicht nur für Freiheit und Frieden in Deutschland ein, sondern für Freiheit und Frieden in ganz Europa.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Erbe der Friedlichen Revolution gebietet uns auch, uns für die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer einzusetzen, für ihr Recht auf Demokratie und für ihr Recht auf Frieden. Die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger auf dem Maidan 2014 hatten dieselben Ziele wie die Bürgerinnen und Bürger der DDR 25 Jahre zuvor. Es ging darum, das eigene Schicksal in die Hände zu nehmen, es ging um das Ende der Fremdbestimmung. Als „Revolution der Würde“ bezeichnen die Ukrainerinnen und Ukrainer deshalb ihren damaligen Aufstand.

Heute, an diesem Tag der Freude in Deutschland, erfüllt es mich mit großem Schmerz, dass der Ukraine eine friedliche Revolution, wie wir sie heute feiern können, nicht vergönnt war, dass Russland der Ukraine diese Freiheit mit brutalster Gewalt entreißen will, dass 35 Jahre nach Öffnung des Eisernen Vorhangs Hunderttausende für einen imperialistischen Wahn geopfert werden. Allen, die vor 35 Jahren für Frieden auf die Straßen gegangen sind, die sich auch heute gegen Krieg und Gewalt einsetzen und die das sicher beim Friedensgebet in der Nikolaikirche bekräftigen werden, pflichte ich bei: Ja, jetzt ist die Zeit für Frieden. Das gilt jeden einzelnen Tag seit diesem schrecklichen 24. Februar 2022.

Die bittere Wahrheit aber bleibt: Dieser Frieden wird erst kommen, wenn Russland dazu bereit ist. Wenn Putin seinen Angriffskrieg einstellt, dann schweigen morgen die Waffen. Das ist doch die Wahrheit! Heute ist es die Ukraine, die in Europa an vorderster Front die Freiheit verteidigt. Wir werden, wir müssen sie dabei unterstützen, bis endlich ein gerechter Frieden herrscht.

Dabei werden wir niemals das Ziel aufgeben, in Zukunft auch wieder Wege zu finden, wie wir Frieden durch Kooperation sichern können. Russland hat sich Schritt für Schritt aus den Vereinbarungen zur Abrüstung zwischen den Weltmächten verabschiedet. Solche Vereinbarungen brauchen wir aber, auch wenn das heute angesichts der Zeitenwende als fernes Ziel erscheint. Wir werden deswegen nicht müde, unser politisches und diplomatisches Gewicht in die Waagschale zu werfen, um gesamteuropäische Institutionen wie die OSZE, den Europarat, und die neu geschaffene Europäische Politische Gemeinschaft zu stärken. Denn es ist der Auftrag unserer Geschichte, dass irgendwann alle Bürgerinnen und Bürger Europas in Frieden, Freiheit und demokratischer Selbstbestimmung leben können.

„Das Alte galt nicht mehr, und das Neue war noch nicht da.“ So haben Sie, Frau Birthler, einmal die Zeit nach dem 9. Oktober beschrieben. In dieser Zeit des Übergangs wurden viele Hoffnungen und Erwartungen geweckt, die nicht eingelöst wurden vielleicht auch nicht alle eingelöst werden konnten. Auf die Verheißung der Einheit folgte an zu vielen Orten erst einmal der wirtschaftliche Zusammenbruch. Im Schlepptau der lange ersehnten Freiheit kamen Massenarbeitslosigkeit und Massenabwanderung.

In diesen Jahren war ich kein Politiker, sondern habe in meinem erlernten Beruf gearbeitet, nämlich als Anwalt. Als junger Arbeitsrechtler kam ich Anfang der Neunzigerjahre hierhin nach Leipzig. Beim Schwermaschinenbaukonzern TAKRAF habe ich Betriebsräte unterstützt. Sie kämpften um mehr als 30.000 Arbeitsplätze. Viele dieser Arbeitsplätze konnten wir damals nicht retten. Das gehört zur Wahrheit der Transformation.

Mit der Überführung an die Treuhand kam für viele der großen Betriebszusammenschlüsse die Aufspaltung und für eine Reihe der neuen Unternehmen bald die Insolvenz. Das hautnah mitzuerleben ging mir sehr nah. Von den tiefen Spuren und auch Narben, die diese Zeit hinterlassen hat, höre ich auch heute noch, etwa wenn ich in meinem Wahlkreis in Brandenburg unterwegs bin.

Ich möchte das hier ganz klar sagen: Zu den Enttäuschungen und Narben der Umbruchjahre hat auch die Selbstgewissheit der Westdeutschen Republik beigetragen. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik waren Frauen und Männer in Leipzig, Cottbus und Stralsund plötzlich zu Bürgerinnen und Bürgern eines Landes geworden, das sie selbst nicht mit errichtet und auch nicht ausgestaltet hatten. Es war jetzt auch ihre Republik, aber doch noch nicht so richtig.

An grundlegender Umgestaltung, etwa durch eine neue Verfassung, hatten im Westen nur wenige Interesse. Zum einen natürlich und vollkommen verständlich, weil es vorher hatte schnell gehen müssen. Niemand wollte jetzt die historische Chance auf ein geeintes Deutschland aufs Spiel setzen. Zu groß waren die Ungewissheiten.

Die Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger der DDR bei der selbst erkämpften und erarbeiteten Demokratisierung und in Vorbereitung der Volkskammerwahl 1990 wurden vielfach beiseite gewischt als Randnotizen des Unrechtssystems SED-Diktatur, über das man im wiedervereinigten Deutschland schnell den Mantel der Geschichte decken wollte. Was sollte man schon davon lernen, geschweige denn übernehmen so die leider weitverbreitete Ansicht.

Meine Vorgängerin Angela Merkel berichtete beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit 2021 vom Gefühl der Frauen und Männer ihrer Generation, die Zugehörigkeit zum wiedervereinigten Deutschland immer wieder neu beweisen zu müssen. Sie zitierte eine Publikation der Konrad-Adenauer-Stiftung drei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer, in der in einem Beitrag über sie vom „Ballast ihrer DDR-Biografie“ die Rede war. Sie erzählte das nicht, um sich zu beschweren, sondern als Beispiel für das, was viele Bürgerinnen und Bürger Ostdeutschlands in den Jahren nach der Wiedervereinigung erlebten. Sagen wir es klar: solche Ignoranz macht wütend, auch zu Recht. Der Mangel an Respekt hinterlässt Narben auch das gehört hierher, 35 Jahre danach.

Meine Damen und Herren, ja, wir haben nicht alles gut gemacht. Aber was nutzt uns diese Erkenntnis, wenn sie uns nicht jeden Tag Ansporn ist, es besser hinzubekommen?

„Der Kampf um Demokratie muss der tägliche Kampf gegen den Spruch sein: Man kann sowieso nichts machen.“ So formulierte es 1993 in der Frankfurter Paulskirche ein großer Bürgerrechtler, der im vergangenen Monat verstorbene Friedrich Schorlemmer.

Wenn wir heute 35 Jahre Friedliche Revolution feiern, dann feiern wir also keine perfekte Einheit und schon gar nicht vollständige Einigkeit. Wir feiern nicht, dass uns alles gelungen ist, sondern wir feiern, wie viel uns trotz allem gelungen ist. Wir sind ein Volk, trotz aller Schwierigkeiten, trotz aller Fehler, trotz aller Widerstände. Uns eint mehr, als uns jemals trennen kann. Das ist die Lehre der Geschichte, um die es am heutigen Tag geht. Das sollten wir uns überall in Deutschland unermüdlich immer wieder sagen.

Lassen Sie mich deswegen mit einem weiteren Zitat von Friedrich Schorlemmer schließen, in dem er auf das Erbe des 9. Oktober 1989 Bezug nimmt:

„Mundtot gemacht, ihrer Würde beraubt, … zu Ja-Sagern dressiert, … zu Schweigern erzogen, haben sich dieselben Menschen schließlich selbst aufgemacht, sind aufgestanden, haben Mut zu sich gefasst und den Mut, etwas sich! zu riskieren. Solch endlich aufgeweckter Bürgersinn, der Gewalt widerstehend, bleibt nötig, darf nicht erlöschen …“

In diesem Sinne freue ich mich sehr auf die Eröffnung des Lichtfests.

Schönen Dank!

Quelle: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/reden/rede-35-jahre-friedliche-revolution-2314186

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