Ministerpräsident Michael Kretschmer Rede zum Festakt „35 Jahre Friedliche Revolution“, Gewandhaus zu Leipzig, 9. Oktober 2024
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Leipzig ist die Stadt der friedlichen Revolution. Zuerst natürlich, weil sich hier im Jahr 1989 die entscheidenden Demonstrationen gegen das DDR-Regime ereignete haben, die, und das ist entscheidend, nicht in einem Blutbad endeten. Und es ist die Stadt der Friedlichen Revolution, weil Sie, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, und diese wunderbare Stadtgesellschaft seit 1989 mit Engagement und Hingabe und dieser Begeisterung das Gedächtnis an die friedliche Revolution jedes Jahr aufs Neue leben. Wie viele zehntausende, hunderttausende Menschen haben in dieser Zeit an den Lichterfesten teilgenommen? Wie viele Menschen haben eine Idee davon bekommen, was damals '89 geschehen ist und welche großartige Leistung das gewesen ist? An keiner anderen Stelle in Deutschland wird so sehr und so intensiv Geschichtsarbeit aus der Gesellschaft, aus der Stadtgesellschaft heraus gelebt. Heute vormittag haben wir hier in Leipzig die Entwürfe des Einheits- und Freiheitsdenkmal begutachten und den Preisträgern gratulieren können. Wettbewerbe sind ein Kind der Demokratie, heißt es zu Recht und es ist in der Tat wohltuend, dass dieser lange Weg seit 2008, als die erste Idee für Leipzig entstanden ist, bis heute gegangen wurde. Es gab schwierige Zeiten mit intensiven Diskussionen und zähem Ringen. Die Stiftung Friedliche Revolution ist immer an diesem Thema drangeblieben und hat die Bevölkerung in einem breiten Prozess eingebunden. Überall in Deutschland wurden die Entwürfe vorgestellt. Heute können wir sagen, dass sich auf dem Leuschnerplatz genau das realisieren wird: Ein ganz toller Entwurf, der aus meiner Sicht auch für die kommenden Jahre und Jahrzehnte viele Ansatzpunkte für Diskussion geben wird. Die stilisierten Plakate und Spruchbänder symbolisieren ein Stück weit den Prozess, der die friedliche Revolution hier in Leipzig und an vielen Stellen ausgemacht hat. Am Anfang wurde auf den Plakaten ein offenes Land für freie Menschen gefordert. Das war am 4. September, als noch niemand ahnen konnte, welche ungeheure Dynamik sich entfalten sollte. Dann der Spruch: "Keine Gewalt. Frieden." Dann "Wir sind das Volk", bis hin zu dem Satz "Wir sind ein Volk". Oder freche Sprüche wie "Stasi in die Produktion", die ja nichts anderes als eine erstaunliche Selbstermächtigung sind und von ganz neuem Selbstbewusstsein der Demonstrierenden zeugten.
Meine Damen und Herren, wenn wir heute zusammen sind, dann gedenken wir auch des furchtbaren Attentates auf die Synagoge in Halle am helllichten Tage des 9. November. Oberbürgermeister Jung hat es gesagt. Das war vor erst fünf Jahren. Es war ein bösartiger, feiger, antisemitischer Angriff. Und es war auch ein Angriff gegen die Art, wie wir alle miteinander leben. Dieser Anschlag richtete sich gegen uns alle und deswegen ist es wichtig, dass wir alle zusammenstehen, wenn unsere Freiheit, unsere Art des Lebens angegriffen wird. Und das wollen wir heute in der Stadt der friedlichen Revolution, in der Menschen für ein Leben in Freiheit Großes gewagt haben, besonders den Familien der Opfer von Halle sagen: Dieser Angriff war ein Angriff auf alle Menschen und unsere Gesellschaft als Ganzes.
Vor fünf Jahren haben wir die Frage diskutiert: War die DDR ein Unrechtsstaat? In der Zwischenzeit hat sich vieles getan, die Frage wurde breit und intensiv diskutiert. Diese Frage stellt sich heute nicht mehr. Oder doch? Wir wissen um die DDR, um die SED-Diktatur und die Stasi-Machenschaften. Gerade angesichts des Charakters dieses DDR-Staates wird doch überhaupt erst verständlich, was die Geschehnisse des Herbstes 1989 für ein historischer Glücksmoment waren! Dass es gelingt, diese Diktatur friedlich in die Knie zu zwingen, mit Kerzen, mit Plakaten und mit großer Präsenz einer selbstbewussten Bürgerschaft - darin besteht das Wunder und das war unser Glück. Wir müssen diese
Erinnerung wachhalten und können immer wieder daran anknüpfen. Das Glück einfach hinzunehmen hieße, ihm seine Kraft rauben.
Nein, meine Damen und Herren, diese Revolution hat ihre Kinder nicht gefressen. Und da widerspreche ich Dirk Oschmann leidenschaftlich und vehement, so sehr ich ihn als Gesprächspartner schätze. Ich gebe ihm nicht recht, wenn er die letzten 35 Jahre damit überschreibt: "Der Osten ist eine westdeutsche Erfindung". Ich finde diese Zeit sollte ganz anders überschrieben werden: "Es ist die glücklichste Zeit in der deutschen Geschichte". Es ist eine unglaubliche patriotische Leistung, die wir seit 35 Jahren in Ost und West miteinander vollbracht haben. Es ist der Beweis, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und soziale Marktwirtschaft ganz offensichtlich die besseren Konzepte sind, wenn man ein Land zu Erfolg und Blüte führen will. Planwirtschaft und Sozialismus hatten ihre historische Chance ja gehabt, sich als erfolgreicher zu erweisen.
Joachim Gauck hat es heute Vormittag gesagt. Der Satz "Wir sind ein Volk" oder "Wir sind das Volk" ist ja nicht nur die Beschreibung, dass wir hier auf der anderen Seite stehen und wir diejenigen sind, die der Souverän sind. Es ist eine Art der Selbstermächtigung. Wir sind das Volk, wir nehmen unser Schicksal selbst in die Hände. Ich glaube, dass wir alle miteinander diese Eigenverantwortung für eine gute Zukunft stärker in den Mittelpunkt stellen müssen. Denn, meine Damen und Herren, wir haben 1989 diese Mauer von Ost nach West eingedrückt. Viele, die älter sind als ich, haben bei den Demonstrationen mitgemacht, haben die Staatssicherheitszentralen besetzt. Sie haben der schrecklichen Umweltzerstörung den Kampf angesagt, Landschaften geheilt, Flüsse wieder freigelegt. Sie haben die Innenstädte wieder aufgebaut. Das war eine riesige Leistung und diese Erfahrung muss für uns der Maßstab bleiben bei allen Herausforderungen, vor die unser Land gestellt ist. Die Menschen waren Subjekte, Handelnde, die ihr Schicksal selbst in die Hand genommen haben. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die großen Herausforderungen der Zukunft nur mit mehr Eigenverantwortung und Eigeninitiative bewältigen können - sei es der Klimaschutz, sei es die Digitalisierung, sei es der Umgang mit dem demografischen Wandel oder der Zusammenhalt in Europa.
Jeder Einzelne muss wieder mehr Verantwortung übernehmen. Wir dürfen den Staat, die Gesellschaft nicht überfordern. Wir brauchen diese Selbstwirksamkeitserfahrung und diese Selbstermächtigung. Und das ist, meine Damen und Herren, am Ende auch die beste Verteidigung von Demokratie, wenn Menschen merken, dass sie durch ihr eigenes Tun ihr Schicksal selber gestalten können und auch demokratische Prozesse voranbringen.
Diese Freiheit, meine Damen und Herren, diese Freiheit braucht Sicherheit. Und Sicherheit kann es für Deutschland nur geben in der Europäischen Union und in einem starken transatlantischen Bündnis. Als ich das vor einer Woche mit anderen Kolleginnen und Kollegen gesagt habe, gab es jemanden, der sich meldete und etwas beitragen wollte. Es war Egon Krenz. Er hat es nicht richtig verstanden. Deswegen noch mal ganz deutlich: Wenn es um die Frage der Ukraine geht, ist es so, wie Marianne Birthler es gerade gesagt hat. Es muss eine Lösung auf rechtsstaatlicher Grundlage und basierend auf dem Völkerrecht, der UN-Menschenrechtscharta und dem Budapester Abkommen geben. Das ist für uns nicht verhandelbar. Lieber Herr Krenz, ihre Meinung brauchen wir nicht mehr. Wir Ostdeutschen haben 1989 gewonnen. Wir sind diejenigen, die am meisten von dieser deutschen Einheit profitieren. Und es liegt an uns, an uns gemeinsam, ob wir das, was wir jetzt aufgebaut und gemeinsam errungen haben, auch für die Zukunft vorantreiben. Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam anpacken und diesen Freistaat Sachsen, unsere Heimat, zu einem weiter neugierigen Land, zu einem spannenden Land für Menschen von außen machen. Ein Land, was für unsere Kinder und Enkel lebenswert ist. Wir haben alle Möglichkeiten dazu. Und dazu können wir auf die Unterstützung durch die EU zählen. Dafür brauchen wir den Zusammenhalt in unserem Land. Und wir brauchen vor allen Dingen eine anständige Debattenkultur.
Wann, meine Damen und Herren, ist denn Deutschland ein Land und endgültig geeint? Ist es überhaupt denkbar, möglich oder ist es überhaupt wünschenswert, dass wir alle immer die gleiche Meinung haben, die gleiche Ansicht haben, immer die gleiche Position zu jedem Thema? Ich finde das total langweilig. Wissen Sie, zu den besten Personalentscheidungen des aktuellen Bundeskanzlers gehört es, als Ostbeauftragten Carsten Schneider eingesetzt zu haben. Mit ihm verbindet mich eine lange Freundschaft. Und als Christdemokrat, muss ich sagen, hat er häufiger eine andere Meinung als ich. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen zu sagen, ob sie richtig oder falsch ist oder ob sie mehr wert ist und berechtigter ist als andere. Wenn wir diskutieren, Ost und West und Nord und Süd, muss es doch wohl möglich sein, dass wir Positionen einfach als Positionen wahrnehmen, eins zu eins stehen lassen und sie nicht ständig danach befragen, aus welchen Voraussetzungen sie sich ableiten lassen und was wir als gültige oder ungültige Voraussetzungen gelten lassen und was nicht. Nur wenn wir bereit sind, unsere Unterschiedlichkeit anzunehmen, werden wir ein Land sein, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ein offenes Land mit freien Menschen haben wir gemeinsam geschaffen. Verteidigen wir es und unseren Rechtsstaat, solange wir es haben. Freiheit und die Möglichkeiten zum Gestalten müssen wir nutzen. Wir sind ein Volk. Wir leben in einem großartigen Land. Es in Frieden und Wohlstand zu erhalten für die Generationen nach uns, ist unsere gemeinsame Aufgabe. Vielen Dank für diese großartige Festveranstaltung und Ihnen allen einen tollen Nachmittag, mit vielen guten Gesprächen.
Vielen Dank.