Dr. Irina Scherbakowa:

Dr. Scherbakowa © Stadt Leipzig/ Stefan Hoyer

Es gilt das gesprochene Wort

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freunde und Kollegen!

Es ist für mich eine ganz große Ehre, hier in Leipzig heute sprechen zu dürfen! Leipzig war für mich sogar in den bleiernen 1970-80ern eine Erinnerung an die Offenheit, an den internationalen Geist, an eine freie Kulturtradition, auch nicht zuletzt dank der Verlage, die hier ansässig waren. Deshalb war es für mich gar nicht erstaunlich, dass der Widerstand gegen das SED-Regime sich auch hier konzentrierte. Und die wachsende Friedensbewegung! Und auch heute ist für mich Leipzig vor allem eines der wichtigen Symbole für das Jahr 1989. Dieses Jahr bleibt für mich eines der dramatischsten und bewegendsten in meinem Leben.

1989 war in jeder Hinsicht für Russland ein Wendejahr: mit den ersten freien Wahlen, der Gründung der Memorial Gesellschaft, der Publikation von „Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn und vieles mehr, was die „Glasnost“- Politik von Michail Gorbatschow gebracht hat. Polen, Ungarn, Tschechoslowakei – das sozialistische Lager mit seinen verschiedenen „Baracken“ zerfiel ganz offensichtlich und es schien, als gebe es fast niemanden mehr, der an seinem Erhalt Interesse haben könnte.

Die DDR schien eine der letzten Bastionen zu sein. Dort wollte die Führung ganz sicher nichts ändern. Im Mai 1989 war ich für einige Tage in Ostberlin. Die Stadt war voll mit Menschen, Hunderttausende FDJ-Mitglieder zogen an der Tribüne vorbei, von der ihnen Honecker und andere Mitglieder des Politbüros zuwinkten. Die Menge mit ihren Fahnen und Transparenten skandierte „Die DDR ist unsere Heimat“. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass nur drei Monate später in Leipzig Tausende zu Protestdemonstrationen zusammenkommen würden.

Seit 1988 hatten Leute aus der DDR, die uns besuchten – Journalisten, Schriftsteller, Freunde – sich wie Verhungernde an Informationen darüber gestürzt, was bei uns vor sich ging. Vor allem auf die Prawda, die in der DDR von Honecker beinahe verboten worden war. Wie es hieß, wollte er damit eine „Ansteckung“ verhindern.

Es sollte ihm nicht gelingen. Umso mehr, als Gorbatschow auf seine etwas unklare Art, aber doch offen, den Satz aussprach, dass die Berliner Mauer von Menschen gebaut worden sei. Als ich diese Worte hörte, konnte ich es kaum glauben. Hatte er das wirklich gesagt? Den heutigen Jungen mag es unsinnig erscheinen, dass ich in diesen Satz so hineinhörte. Natürlich hatten Menschen die Mauer gebaut, wer denn sonst? Aber wir waren nun einmal daran gewöhnt, die Zeilen zwischen den Zeilen zu lesen, das Ungesagte hinter dem Gesagten herauszuhören. Und in dem Moment, wo er sagte, die Mauer sei von Menschen gebaut, dann hieß das im Umkehrschluss, dass sie nicht für die Ewigkeit gebaut, sondern dass Menschen sie wieder abtragen konnten.

Heute ist es schwer zu verstehen, wie tief dieses „für die Ewigkeit“ in unseren Köpfen verankert war. Diese Ewigkeit galt für das ganze kommunistische System und erst recht für die Mauer. Niemand von uns konnte sich vorstellen, den Zusammenbruch beider jemals zu erleben.

Am 6. Oktober fuhr Gorbatschow zur 40-Jahr-Feier des Bestehens der DDR, aber es war deutlich zu spüren, dass er eigentlich gar nicht fahren wollte. Als viele Jahre später die Aufzeichnungen seines Mitarbeiters Anatoli Tschernjajew veröffentlicht wurden, war es klar, wie sehr er sich gegen den Besuch gesträubt hatte. Und welchen Eindruck die vielen Demonstrationen gegen die DDR-Regierung auf ihn gemacht hatten:

Notiz vom 5. Oktober 1989:

Michail Sergejewitsch fliegt morgen in die DDR zur 40-Jahr-Feier. Er hat gar keine Lust dazu. Er hat heute zwei Mal angerufen... „Kein Wort als Unterstützung für Honecker werde ich sagen“... heute gab es in Dresden eine Demonstration mit 20 000 Menschen - gestern gab’s das in Leipzig -

Am 10. November 1989 notiert Tschernjajew schließlich:

Die Berliner Mauer ist gefallen. Eine ganze Epoche des „sozialistischen Systems“ geht zu Ende. Das hat Gorbatschow getan. Er ist wirklich ein Großer. Er hat den Strom der Geschichte erkannt und hat geholfen, ihn ins richtige Bett zu leiten.

Eine Wiedervereinigung schien mir unvermeidbar, aber ich ahnte, dass es ein schwieriger und schmerzhafter Prozess sein würde, schließlich waren vierzig Jahre in der Unfreiheit vergangen... Welche massiven Auswirkungen die Machenschaften der Stasi noch nach der Wiedervereinigung haben sollten, auch das konnte sich niemand vorstellen. Sie zerstörten nicht nur das Leben von vielen Menschen während der DDR-Zeit, sondern noch vieler nach ihrem Zusammenbruch.

Doch zunächst war ich nur begeistert darüber, wie schnell die Aktivisten in Berlin agierten und das Archiv der Stasi übernahmen. Wir hatten gerade erst die Öffnung unserer Archive gefordert – und hier waren sie schon in der Hand der Öffentlichkeit.

Als die Mauer fiel, war man nicht nur in Deutschland, sondern auch in Russland erschüttert. Es ging die Epoche des Kalten Krieges zu Ende. Es schien, dass alle Stereotype und Vorurteile jetzt endlich weggeräumt worden waren. Der wirkliche Durchbruch kam, als in den für Russland sehr harten Wintern 1990, 1991 eine massive humanitäre Hilfe aus Deutschland kam, und nicht nur in der Form von Lebensmittelpaketen. Eine starke Sympathie, Mitgefühl und Engagement für das neue Russland kamen aus Deutschland wie aus keinem anderen Land.

Als 1989 in Russland die erste unabhängige zivilgesellschaftliche Organisation „Memorial“ gegründet wurde, ging es um das Ziel, Denkmäler für die Opfer der politischen Repressionen zu errichten, die Geheimarchive zu öffnen und alle ehemaligen politischen Gefangenen zu rehabilitieren. Als Memorial gegründet wurde, war das ein Beweis dafür, dass sich in unserer Gesellschaft eine Veränderung vollzog, denn eine tief verborgene Erinnerung an die Massenrepressionen, an den Terror, dessen Opfer Millionen von Menschen geworden waren, wurde wiederbelebt. Von diesem Moment an war es die Hauptaufgabe von Memorial, Listen zu erstellen – unsere Datenbank enthält Informationen über mehr als 3,5 Millionen Opfer; die Schaffung eines Volksarchivs mit zehntausenden Fällen und einer einzigartigen Museumssammlung. All die Jahre haben wir Menschen geholfen, Informationen über ihre Angehörigen zu finden, und sie haben uns Dokumente, Gegenstände übermittelt – was in den Familien gerettet werden konnte. Unter den Opfern des Terrors waren Menschen aus verschiedensten sozialen Schichten, Völkern und Nationalitäten. An verschiedenen Standorten in Russland sind Denkmäler entstanden (oft an den entdeckten Massengräbern) als Gedenken an die Opfer des politischen Terrors. Aber Memorial beschäftigte sich auch mit Tätern (es entstand eine Datenbank mit über 40 000 Organisatoren und Vollstreckern des Terrors).

Mit der Öffnung der Archive begann eine intensive Zusammenarbeit auch mit den deutschen Historikern, um sogenannte weiße Flecken in der gemeinsamen Geschichte zu erforschen– es ging um Schicksale der deutschen Opfer in der SU in den 1930er Jahren, um Schicksale von Kriegsgefangenen von beiden Seiten, um nach Deutschland verschleppte Ostarbeiter, die dann nach der Rückkehr in die Sowjetunion oft verfolgt oder diskriminiert worden waren. Es ging um die Geschichte der sowjetischen Sonderlager in der SBZ und um vieles andere mehr.

Es kamen auch deutsche Stiftungen nach Russland, die gemeinsame Projekte unterstützten. Ganz davon abgesehen, wie viele zivilgesellschaftliche Initiativen, humanitäre Hilfsaktionen und andere deutsch-russische Aktivitäten zustande gekommen sind. Manchmal sagt man, dass man damals in Russland von den Deutschen lernen wollte, wie man die Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit vollbringt, wie weit man schon in der Geschichtspolitik fortgeschritten ist, um von dieser Erfahrung zu lernen. Und das stimmt auch. Aber das wichtigste war globaler – Deutschland gab ein Beispiel, wie man eine Demokratie aufbauen kann, wenn man gerade die Lehren aus der negativen Erfahrungen der Vergangenheit zieht. Noch in den 1990ern waren wir überzeugt, dass das jetzt der Weg Russlands ist. Das, muss man zugeben, war sehr naiv.

Es wurden in den 1990er Jahren keine Leitlinien der Geschichtspolitik herausgebildet, die eine konsequente Richtung vorgegeben hätten. Es gab keine juristische und rechtliche Verurteilung des kommunistischen Regimes, der Rolle Lenins, Stalins, es gab keine Entscheidung des Parlaments dazu. Es gab keine wirkliche Reform der Justiz und der Staatssicherheitsorgane. Diese Unterschätzung der Bedeutung einer konsequenten „Befreiung“ hatte, wie wir das heute deutlich sehen, schwerwiegende Folgen. Es war nach 70 Jahren der Sowjetmacht die Idee der Befreiung, die viele Menschen in Russland zur Perestroika-Zeit beflügelte, die Befreiung noch von dem durch Stalin errichteten repressiven Staat und Parteiapparat, mit denen Russland keine demokratische Zukunft würde haben können.

Aber diese Bestrebungen zur Befreiung wurden vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise, die viele Leute in den 90ern stark getroffen hatte, immer schwächer. Es manifestierte sich bald die Enttäuschung über eine nie richtig vollzogene Demokratisierung und nie wirklich errungene Freiheit. Nach und nach machte sich Müdigkeit breit, das Interesse zur Reflexion der Geschichte erlosch, die historische und zivilgesellschaftliche Arbeit an der Überwindung der Vergangenheit ging langsam ein.

Das wichtigste aber war, dass die Idee der Freiheit nicht mehr für die Menschen in Russland entscheidend war, man verabschiedete sich von ihr, um sich der sogenannten Stabilität zu erfreuen, was die Macht versprach.

Die Demokratiebewegung der Perestroika-Zeit, die Mobilisierung einer ganzen Gesellschaft, die in der Befreiung der Länder Osteuropas aus der sowjetischen Einflusssphäre endete, der Fall der Berliner Mauer und das Ende des Kalten Kriegs wurden nun in Russland als Niederlagen gesehen. Der Zerfall der Sowjetunion gilt als Störfall und wie es dann Putin sagte «als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jh.».

Putin, der auf der Welle dieser Stimmungen an die Macht kam, hat schnell die Demokratie und viele bürgerliche Freiheiten abgeschafft oder zumindest drastisch eingeschränkt. Der Populismus der 90er Jahre, wo man die Hoffnung in Russland auf nur entstehende demokratische Institute (Wahlen, Parteien, Parlament, Justiz) aufgab, und sich wieder nach Führern orientierte in der Erwartung der „starken Hand“, die alles richten wird, führten zum Autoritarismus und letztendlich zu einer Diktatur. Und da fand sich Russland wieder in der Quadratur des Kreises – denn die eine Figur, die in ihren Händen so viel Macht konzentriert, braucht immer mehr Unterstützung und Mobilisierung der Bevölkerung; es muss ja immer wieder bestätigt werden, dass diese Figur alternativlos ist. Deshalb die hysterischen Parolen, „wenn nicht Putin, dann wer“, „Putin ist Russland, und ohne Putin kein Russland“, die in die Massen geschleudert werden.

Warum spürten wir (ich meine jetzt wir in Memorial) wohin die Reise geht vielleicht früher als manche anderen? Weil es sich durch die Vektoren der historischen Politik manifestiert hat, die sich schon am Anfang der Putin-Zeit zu bilden begannen. Das war die immer deutlicher werdende national-patriotische Doktrin. Und der Kern dieser Doktrin bildete der Siegesmythos. Dieser Mythos, der auf dem nationalen Stolz basieren sollte und Ressentiments, hat Stalin wieder auf ein historisches Podest gestellt. Der nicht mehr als grausamer Alleinherrscher und Organisator von Massenterror erscheinen sollte, wie das in der Perestroika deutlich wurde, sondern als Sieger im Krieg, Erweiterer von Grenzen und vor allem als das überzeugendste Symbol des starken autoritären Staates.

Je weiter, desto mehr steigerte sich diese Geschichte. Aus dem Kriegsbild sollte alles entfernt werden, was zu diesem glorreichen Mythos nicht passte. Der Tag des Sieges, der 9. Mai, wurde immer mehr zur Manifestation des militaristischen Geistes. Zum Mittelpunkt wurden die Militärparaden, leere Symbole, wie Georgsbändchen, die mit der wahren Erinnerung an den Krieg nichts zu tun hatten. Es kam immer mehr zur Sakralisierung und Enthistorisierung des Zweiten Weltkrieges. Und – das war nur teilweise die Rückkehr in die sowjetischen Zeiten; wo, wenn auch heuchlerisch, der Frieden stets beschworen wurde – „Nie wieder Krieg“ war doch die wichtigste Botschaft – vor allem am 9. Mai.

Dieser militaristische Geist führte zu aggressiven Parolen. Statt „Nie wieder Krieg“ – „Wir können es wiederholen!“ Kränkungsgefühle gegen all die, die die Rolle der Sowjetunion nicht schätzten, die über die Zweite Besatzung sprachen. Zusammen mit Nationalstolz lebten die alten sowjetischen (und in vielem auch vorsowjetischen) Stereotype wieder auf und verfestigten sich. Die Vorstellung vom Westen als – heute wie früher – Feind und Quelle allen Unglücks für Russland, von einem Westen, der das Land in den 90er Jahren fast in die Knie gezwungen hätte; von einer „fünften Kolonne“, die im Auftrag dieses Feindes agierte; von der Feindseligkeit der Nachbarländer und vieles andere mehr.

Ich rede darüber so ausführlich, weil das alles nun in der Politik gegen die Ukraine und in diesem verbrecherischen Krieg eine große Rolle spielt. So werden die Begriffe verdreht, der Begriff des Faschismus oder Nazismus, der auf die Balten, und dann auf die Ukrainer bezogen wurde. Eine wachsende Zahl von Staatsmännern und sogar Dienern der Kirche erklärte ausdrücklich, dass Krieg nichts Unnatürliches ist, da er den Geist der Nation stärkt und reinigt. Offen wurde über die Unnatürlichkeit der Grenzen der Russischen Föderation gesprochen, die man erweitern sollte.

Die Frage, ob man nach alldem doch einen Krieg vorhersehen konnte, hat am Anfang uns alle, und ich nehme an, auch den Westen beschäftigt, weil es mit der Frage in Verbindung steht, wie vorbereitet man im Westen darauf war – politisch, wirtschaftlich, moralisch.

Warum eigentlich dieser Schock? Man muss der Wahrheit in die Augen sehen – Warnsignale gab es seit den zwei Jahrzehnten mehr als genug.

Schon sehr frühe Aussagen von Putin, als er in seiner Münchener Rede den Westen und die Nato eindeutig bedrohte. Und es wurde immer offensichtlicher – denn 2007 kam der zwar kurze aber zweifellos ein Krieg gegen Georgien, wobei Südossetien der Vorwand war.

Den Refrain bildeten Thesen über die ehemalige Größe des Landes, auf das man sich stützen und das wiederhergestellt werden muss. Die dominierende ethnische Gruppe dieses Landes, die Russen, wird durch das Zivilisationszentrum einer besonderen «Russischen Welt» dargestellt, die sich weit über die eigentlichen russischen Grenzen hinaus erstreckt. Es basiert auf einem «besonderen genetischen Code» und einer spezifischen religiösen und kulturellen Tradition, die eindeutig der Überlegenheit gegenüber den meisten anderen zugeschrieben wird. In dieser durch die quasi-historische Gerechtigkeit untermauerte aggressiven Expansionspolitik, in der man das Seine holt, wird der Ukraine das Recht auf Unabhängigkeit abgesprochen, die Ukraine zum Hort von Faschisten und Nationalisten erklärt. In Putins Artikel im Juli des vorigen Jahres heißt es im Klartext, dass die Ukraine zwei Möglichkeiten hat: Entweder wird sie zum Protektorat Russlands, oder sie wird erobert. Putin glaubt, dass die militärische Kontrolle über die Ukraine Russland haben muss. Es gibt keine anderen Optionen; diese Frage ist für ihn existenziell. Er ist bereit, jedes, in Worten: jedes Opfer in Kauf zu nehmen, damit dies erreicht werden kann.

Sehr deutliche Signale, die wir als Memorial wahrgenommen haben, war auch die Schaffung von Feindbildern. Die Politik, die alle Nicht-Einverstandenen mundtot machen sollte, begann mit dem sogenannten Agenten Gesetz, 2012 angenommen und seit der Zeit ständig verschärft, bis zum heutigen Tag, womit praktisch jeder zum ausländischen Agenten erklärt werden kann, der im Sinne des Auslands irgendetwas öffentlich gesagt, oder in den sozialen Netzen geschrieben hat. Letztendlich wurde auch Memorial wegen Verstößen gegen dieses Gesetz liquidiert.

Die ohnehin repressive Politik gegenüber allen Kritikern wurde im vergangenen Jahr stark verschärft. Es wurden nun faktisch keine Protestaktionen möglich, nicht nur Demonstrationen und Kundgebungen wurden verboten, sondern auch einzelne Piketts. Tatsächlich verging keine Woche ohne neue Urteile und politische Inhaftierungen. Tausende Menschen wurden als politische Häftlinge vom Menschenrechtszentrum Memorial anerkannt, und die Urteile, die in solchen Fällen verhängt werden, übertreffen diejenigen der Breschnew-Ära.

All dies wird von der beispiellos aggressiven Propaganda vor allem im Fernsehen, das verstaatlicht ist, begleitet, die darauf abzielt, „Spione und Agenten“ zu entlarven und Feindbilder zu schaffen.

Doch sogar vor diesem Hintergrund wurde der Beschluss des Obersten Gerichtshofs Russlands, die Internationale Memorialgesellschaft zu liquidieren, für viele Menschen in- und außerhalb Russlands zu einem neuen Meilenstein dieser repressiven Politik. In der Rede der Staatsanwaltschaft während des Prozesses wurden die Gründe für die Liquidierung deutlich formuliert – und das ist in den Augen der Anklage die Darstellung des Sowjetstaates als Terrorstaat, und das soll auch für die heutige offizielle Einstellung zum Staat sehr destruktiv sein.

Für eine Historikerin, die sich mit der sowjetischen Geschichte, vor allem der Geschichte der politischen Repressionen, befasst, bedeutet es, in Russland ständig mit den Taten von denjenigen konfrontiert zu werden, die offensichtlich nichts aus der Geschichte gelernt haben. Das erzeugt immer öfter das Gefühl der Verzweiflung und Ohnmacht. Vor allem wenn man sieht, wie unberechenbar die politischen Entscheidungen und Handlungen aussehen. Es ist sehr schwer, heute über die Vergangenheit zu reden, weil die Gegenwart jeden Tag das Gefühl bringt, dass wir mittendrin sind in einer für Europa gefährlichsten Situation seit dem Zweiten Weltkrieg. Putin hat eine Mobilisierung verkündet, und wenn man sie eine teilhaftige nennt, und das passierte in Russland im 20. Jahrhundert zweimal. Und über die Zukunft zu reden ist noch schwieriger, weil wir hier mit einer bösartigen Unberechenbarkeit zu tun haben, die den Weltfrieden bedroht. Aber wie schwierig es auch ist – die Aufgabe des Historikers ist es doch zu erklären, wieso es dazu kommen konnte. Und es stellt sich die Frage – wozu?

Vor zwei Tagen ist bekannt geworden, dass Memorial gemeinsam mit einer wunderbaren und sehr mutigen ukrainischen Organisation Center for Civil Liberties und dem belorussischen Menschenrechtler Ales Bjaljazki mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Und es entstand die Frage, wie können die Menschenrechtler und Historiker zu einem Frieden beitragen, und das mitten in so einem blutigen Angriffskrieg. Aber ich hoffe, dass gerade hier, in Leipzig, man versteht, wie eng das eine mit dem anderen verknüpft ist. Unser Fokus als Aufarbeitungsund Menschenrechtsorganisation war immer der einzelne Mensch, seine Rechte, seine Würde, seine Geschichte. Wir wollten an die Millionen vergessener Opfer aus dem „Lagerstaub“, wie der Volkskommissar des NKWD Berija einmal die Opfer benannte, erinnnern. Und in diesem Sinne ist der Friedensnobelpreis auch eine Anerkennung und ein Gedenken an Millionen von Opfern des staatlichen Terrors. Und dieser Kampf um den Menschen ist heute wichtiger als je zuvor.

Dieser Kampf um die Erinnerung ist auch der Grund dafür, was heute mit Memorial passiert. Deshalb wurde so viel Druck ausgeübt, deshalb wollte man Memorial aus dem öffentlichen Raum verdrängen, als ausländische Agenten diffamieren, verfolgen und letztendlich liquidieren. Die Solidarität und die Unterstützung, die uns in dieser schwierigen Zeit von Menschen und Organisationen aus verschiedenen Ländern geboten wurde, hat uns von der Bedeutung unserer Arbeit und der Notwendigkeit überzeugt, sie auch außerhalb Russlands fortzusetzen. Denn es geht nicht um uns, sondern darum, die Erinnerung an Millionen von Opfern zu bewahren, denn dieser Erinnerung an Massenterror sind keine Grenzen gesetzt.

An diesen Tagen denken wir an unsere Memorial-Kollegen, die ihr Leben und ihre Freiheit für diesen Kampf geopfert haben. Wie Natalia Estemirova, die vor 13 Jahren wegen ihres Einsatzes in Tschetschenien ermordet wurde. Diese Anerkennung geht an sie.

Wir empfangen den Preis schweren Herzens, denn man muss zugeben, dass wir unser Ziel – die Aufarbeitung der Verbrechen des Sowjetischen Staats, damit diese nicht wieder passieren – nicht erreicht haben! Wir müssen nun darüber reflektieren, warum unsere Stimmen zu schwach waren, warum die russische Gesellschaft uns nicht zuhören wollte, als wir von Verbrechen und Gräueltaten – im sowjetischen GULAG, in Katyn, über den Holodomor in der Ukraine und dann im Tschetschenischen Krieg – gesprochen haben. Genau solche Gräueltaten, die wir jetzt in Butscha, Izyum und jeder ukrainischen Stadt und Dorf mit Entsetzen beobachten.

Wir verstehen durchaus die Gefühle vieler Ukrainer, die jetzt im brutalen Angriffskrieg um ihre Existenz kämpfen. Für diesen Krieg und ihr Leid gibt es keine Rechtfertigung. Wir empfinden diesen Preis aber ausdrücklich nicht als ein Versöhnungsprojekt – dafür bräuchte man erst Aufarbeitung, Sühne und Bestrafung aller Kriegsverbrecher – sondern als Anerkennung des Kampfes gegen unmenschliche Machtsysteme. Und in diesem Kampf brauchen wir vor allem die Solidarität. Und ich glaube, dass das, was wir heute an diesem Tag in Leipzig und in diesem Saal empfinden – ein Beweis ist für diese Solidarität.

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