Basil Kerski: Rede zur Demokratie Leipzig, Nikolaikirche, 9. Oktober 2020
„Der kürzeste Weg in die Zukunft führt über die Vertiefung der Vergangenheit.“
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident, sehr geehrter Herr Staatsminister, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrter Herr Jahn, sehr geehrter Herr Superintendent, sehr geehrter Herr Pfarrer, sehr geehrte Mitglieder der Initiative „Tag der friedlichen Revolution“, liebe Heldinnen und Helden der Friedlichen Revolution, der Bürgerrechtsbewegung in Mittel- und Osteuropa, verehrte Festgemeinschaft, von Wilhelm von Humboldt stammt der folgende Gedanke: „Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft“. Die Kenntnis der Geschichte ist eine Kompetenz, um sich in der Gegenwart zu orientieren. Die Frage ist nur, die Kenntnis welcher Vergangenheit brauchen wir, um uns zu orientieren? Die regionale, nationale oder europäische? Die Kenntnis regionaler oder nationaler Geschichte reicht heute nicht aus, um die eigene Kultur zu kennen und die Demokratie zu stärken, sie zukunftssicher zu machen. Eine breitere europäische Perspektive in der Wissenschaft, Bildung und im öffentlichen Diskurs über unsere Vergangenheit und Zukunft ist gefragt. Der Blick über die kulturelle Grenze zum Nachbarn eröffnet uns neue Perspektiven auf unsere Geschichte und damit auch auf unsere Gegenwart. Leipzig ist ein besonderes Beispiel für diese Haltung. Seit vielen Jahren wird im Rahmen des Lichtfestes mit europäischen Nachbarn des Epochenwechsels von 1989 gedacht. Und gleichzeitig dient das Leipziger Bürgerfest dem Ritual der Verständigung über die Herausforderungen der Zukunft. Erinnerung schafft ein Gefühl der Bindung, der Zugehörigkeit. Erinnerung kann uns auch Orientierung geben, auf dem Weg in die Zukunft. „Der kürzeste Weg in die Zukunft führt über die Vertiefung der Vergangenheit,“ betonte der französische Dichter Aimé Césaire. Der US-Historiker Timothy Snyder versuchte in seinem Essay „Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand“, einer Reaktion auf Donald Trumps Populismus, einen ähnlichen Gedanken zu fassen. Zwar wiederhole sich die Geschichte nicht, so Snyder, doch sie erteile uns immer wieder Lektionen. Wir können aus der Geschichte lernen, um alte Fehler und Katastrophen zu verhindern.
Eine in Europa in den letzten Jahren viel zu selten reflektierte und zu selten als wichtige politische Quelle genutzte Erfahrung ist der europäische Epochenwechsel der Jahre 1989-1990.
Meine Damen und Herren,
1989 war die Geburtsstunde des politischen Europas, in dem wir heute leben, damit meine ich nicht nur Deutschland und Polen, sondern ganz Europa, Ost und West. Die Revolutionen der Bürger brachten vor dreißig Jahren nicht nur den Zusammenbuch der kommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa, in ihrer Folge wandelte sich der gesamte Kontinent. Im Westen Europas wird dieser revolutionäre Umbruch vor allem der Reformpolitik des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow zugeschrieben, der Glasnost und Perestrojka. Weitgehend unterschätzt wird dagegen die Rolle der Zivilgesellschaften östlich des Eisernen Vorhangs, der DDR-Bürgerbewegung, der Charta 77, der Menschenrechts- und Nationalitätenbewegung in der ehemaligen Sowjetunion, und ganz besonders unterschätzt wird die Bedeutung der polnischen Bürgerbewegung Solidarność.
Die vergessene Wechselwirkung zwischen dem Freiheitskampf der Solidarność und den Reformen Gorbatschows brachte der Historiker Jerzy Holzer treffend auf den Punkt: Die Geburt der Solidarność im August 1980 und ihre politischen Folgen seien, so Holzer, nach Machtantritt Gorbatschows 1985 zu einem Katalysator für die Perestrojka geworden, und umgekehrt beschleunigte die Perestrojka den weiteren Wandel in Polen. Den Reformwillen Gorbatschows nutzte die Solidarność-Führung um Lech Wałęsa zu Gesprächen am Runden Tisch in Warschau, die bereits in Februar 1989 begannen und deren Ende Anfang April das Tor zur Demokratisierung Polens öffnete. Die Wiederzulassung der Solidarność im April 1989 und die ersten halbfreien Wahlen in Polen am 4. Juni 1989 lösten eine Kettenreaktion aus, die im späten Frühjahr 1989 zum ungarischen Runden Tisch und im Herbst zu Massenprotesten in der DDR und der Tschechoslowakei führten. Schließlich fiel am 9. November 1989 die Berliner Mauer. Es war ein symbolischer Höhepunkt einer europäischen Revolution, in der die Solidarność Maßstäbe setzte.
Der Sieg der Bürgerrevolutionen in Mitteleuropa 1989 gab den Deutschen die unerwartete Chance zur Vereinigung, die schon ein Jahr später am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde. Die deutsche Einheit wäre nicht möglich gewesen ohne die Zustimmung der Alliierten, aber auch nicht ohne die Akzeptanz der Nachbarn. Eine Grundbedingung der Einheit war die Aussöhnung mit den westlichen Nachbarn, allerdings gleichermaßen die mit den östlichen, vor allem mit Polen. Durch ein in den westlichen Strukturen integriertes vereinigtes Deutschland rückte der Westen unmittelbar an die polnische Grenze. Die Solidarność-Führung wollte diesen geopolitischen Wandel.
An die Wechselwirkung zwischen der polnischen Revolution und der Deutschen Einigung vor 30 Jahren erinnert eine Tafel am Leipziger Augustusplatz, die die Stadt Leipzig 2014 gemeinsam mit dem Europäischen Solidarność-Zentrum und dem Polnischen Institut Leipzig 2014 angebracht hat. Ein kurzes Zitat daraus: „Für unsere und eure Freiheit. Der Sieg der Solidarność stärkte die Bürgerbewegung in der DDR und trug zur deutschen Einheit bei. Polens Freiheit wiederum wurde durch die Beseitigung der SED-Diktatur und die Wiedervereinigung Deutschlands gefestigt. Freiheit kann nur durch die Solidarität der Völker dauerhaft sein.“
Nach zwei Jahrhunderten feindschaftlicher Politik und einem vernichtenden Krieg schafften es Deutsche und Polen vor dreißig Jahren 1989 dauerhaften Frieden zwischen den Nationen zu sichern, eine Werte- und Interessengemeinschaft zu begründen. Ausdruck dieses Willens war der im November 1990 unterzeichnete deutsch-polnische Grenzvertrag, ein Fundament der Friedensgemeinschaft Europäische Union. Die deutsche Einigung im Schnelltempo ist auch ein großartiger deutsch-polnischer politischer Erfolg. Seine Architektinnen und Architekten will ich heute nennen. Die prominenten Protagonisten des Einigungsprozesses auf westdeutscher Seite sind wohl bekannt: Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, Rita Süssmuth, Willy Brandt, Richard von Weizsäcker, die Publizisten Marion Dönhoff, Peter Bender, die Literaten Karl Dedecius, Heinrich Böll oder Günter Grass, die Intellektuellen Gesine Schwan und Heinrich-August Winkler. Wer kennt die ostdeutschen Protagonisten der deutschpolnischen Verständigung? Aktive von Aktion Sühnezeichen, Ludwig Mehlhorn, Stephan Bickhard, Günter Särchen, Friedrich Magirius; Bürgerrechtler, wie Markus Meckel, Ulrike und Gerd Poppe, Werner Schulz, Wolfgang Templin und Roland Jahn, Konrad Wolf oder Wolfgang Ullmann; die Schriftseller Erich Loest, Christa Wolf, Henryk Bereska oder Heinrich Olschowsky. Hier in Leipzig auch der Literaturwissenschaftler Hans-Christian Trepte. Wer kennt die polnischen Protagonisten der Versöhnung, die Baumeisterinnen und Baumeister der europäischen und deutschen Freiheit, die Ikonen der Solidarność? Ich nenne zunächst diejenigen, die wir in den letzten Jahren verabschieden mussten: Johannes Paul II., Premierminister Tadeusz Mazowiecki, die Außenminister Bronisław Geremek, Władysław Bartoszewski, Krzysztof Skubiszewski, der Arzt und Überlebende des Warschauer Ghettoaufstandes Marek Edelman, die Intellektuellen Leszek Kołakowski, Jan Józef Lipski, Jerzy Turowicz, Andrzej Szczypiorski oder der Exilverleger Jerzy Giedroyc. Aber auch die Legenden der Solidarność Lech Wałęsa, Adam Michnik und Bogdan Borusewicz oder die Literaten Hanna Krall und Adam Zagajewski. Sie sind weiterhin aktiv, heute als Bürger, die die Demokratie und den Rechtsstaat verteidigen. Sie sind bedeutende Akteure des Umbruchs, Architekten der Freiheit, selten genannte polnische Baumeister der deutschen, europäischen Einigung.
Diese Menschen haben lange vor 1989/1990 zum Ausdruck gebracht, dass die Teilung Deutschlands keine Sicherheitsgarantie für die Souveränität Polens ist, sondern geradezu die Teilung Europas zementiert und somit Polens Rückkehr in den Westen behindert. Und sie verstanden, dass Hass gegenüber dem Nachbarn die Menschen ihrer geistigen Souveränität beraubt und Machtmittel autoritärer Regime ist. Aus diesen Überzeugungen heraus traten diese Menschen für Verständigung und strategische Partnerschaft mit den deutschen Nachbarn schon lange vor 1989 ein. Gemäß der Tradition: Für Eure und unsere Freiheit!
Meine Damen und Herren,
Die deutsche Vereinigung hatte den Rückzug der sowjetischen Truppen aus Zentraleuropa zur Folge. Moskau verlor damit die militärische Kontrolle über das östliche Mitteleuropa. Kolonien des sowjetischen Imperiums verwandelten sich in souveräne Nationen. Die Bürgerrevolutionen in Polen, Ungarn, der DDR und Tschechoslowakei verstärkten den Freiheitswillen der Völker der Sowjetunion. Außer den baltischen Nationen forderten auch andere Völker der Sowjetunion, Ukrainer, Georgier, Armenier oder Belarussen die Rückkehr in die nationale Eigenständigkeit und pochten auf Unabhängigkeit von Moskau.
Die Revolutionen in Polen, der DDR oder Ungarn konnte und wollte Moskau 1989 nicht mit Panzern ersticken. Angesichts des massenhaften Protestes der Bürger war das Risiko einer unkontrollierten politischen Krise zu groß. Aus der damaligen sowjetischen Perspektive sollte der friedliche Wandel die Krisen im Herrschaftsbereich 1989 mindern und somit das Zentrum der Macht in Moskau stärken. Doch die Rechnung ging nicht auf, die mitteleuropäische Revolution von 1989 strahlte auf das gesamte Imperium aus. Innerhalb der UdSSR setzten die Kommunisten daraufhin zum Teil auf Gewalt, um den Wandel zu stoppen. Gorbatschow schickte Truppen in die baltischen Republiken. Kommunistische Betonköpfe wollten im Sommer 1991 Gorbatschow stürzen und beschleunigten damit nur den Zusammenbruch des Sowjetreiches. Auf den Trümmern des roten Imperiums entstand die Russische Föderation. Die baltischen Staaten wurden souverän, die Ukrainer konnten nach zahlreichen erfolglosen Versuchen im 20. Jahrhundert endgültig ihren eigenen Staat errichten.
Die neu entstandene Ukraine verzichtete auf ihr Atomwaffenpotenzial. Im Gegenzug garantierte Russland im Budapester Memorandum 1994 die Unantastbarkeit der ukrainischen Grenzen. Territoriale Integrität der Ukraine und im Gegenzug das militärische Atommonopol Russlands in Osteuropa, das war damals der Deal - und auch ein wichtiges, vergessenes Element der politischen Ordnung Europas nach 1989, die der regionalen Vormachtstellung der Russischen Föderation Rechnung trug. Einer Ordnung, die Russlands Präsident Putin mit dem Krieg in der Ostukraine infrage gestellt hat. Ein Krieg, der vor allem von russischen Bürgerrechtlern kritisiert wird. In Polen erschien vor vier Jahren ein Dialog (als Buch) zwischen Alexiej Nawalny und der polnischen Demokratielegende Adam Michnik über der Erfahrungen der polnischen Revolution und das polnisch-russische Verhältnis. Ein ermutigender Meinungsaustausch von zwei Europäern! Darin kritisiert Nawalny Moskaus neoimperiale Politik. Russland, so Nawalny, sei ein großes Land, es biete genug Platz den Völkern der Föderation, und genug Möglichkeiten der Erschließung der russischen Weite. Die Modernisierung der russischen Infrastruktur sei eine große patriotische Aufgabe und nicht Kriege. Die Nachbarn würden die Entwicklung des Landes nicht stören, so Nawalny, nur die eigene demokratische Schwäche würde Russlands ökonomisches und politisches Wachstum behindern. Für Nawalny ist die Erfahrung der europäischen friedlichen, gewaltfreien Revolutionen eine wichtige Inspiration, das Erbe der Solidarność Quelle russisch-polnischer Versöhnung.
Meine Damen und Herren,
Der Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftsbereiches hatte auch Folgen für den Westen. Er gab der Idee der politischen Integration Europas Anfang der 1990er Jahre neuen Auftrieb. Die Staaten des Westens bauten 1993 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in eine Europäische Union um. Im Vertrag von Maastricht von 1992 wurde die finanzielle Integration vertieft, die Einführung einer gemeinsamen Währung als konkretes Ziel formuliert. Neutrale Staaten der Zeit des Kalten Krieges wie Österreich, Schweden und Finnland traten 1995 der EU bei und stärkten sowohl die ökonomische als auch die politische Attraktivität der Europäischen Union. Die Revolutionen von 1989 veränderten Europa grundlegend, doch die Geschehnisse von vor drei Jahrzehnten sind in den Erinnerungen der heutigen Europäer tief verschüttet, ihre Bedeutung verblasst. Europas Nationen haben sich stark in ihren Identitäten, Traditionen und Kulturen vergraben, in ihren eigenen Problemen verschlossen. Darüber hinaus scheint es heute deutlich zu werden, dass wir es nicht verstehen, europäische Jubiläen der Freiheitsgeschichte zu nutzen, damit positive Bindungen zwischen den europäischen Gesellschaften entstehen, um eine gemeinsames politisches Traditionsbewusstsein zu pflegen. Dies wurde im letzten (Corona-freiem) Jahr ganz deutlich. Der 30. Jahrestag des polnischen Runden Tisches, der ersten halbfreien Parlamentswahlen vom 4. Juni oder der ungarische Runde Tisch, all diese Ereignisse fanden in den europäischen Medien und auf der europäischen politischen Bühne nur am Rande Erwähnung, kaum Anerkennung.
Dabei ist z.B allein nur der 4. Juni 1989 ein Datum von welthistorischer Bedeutung. An diesem Tag gewann die Solidarność die halbfreien Wahlen, die Bürger entzogen an den Wahlurnen den Kommunisten ihre politische Legitimität und in China rollten die Panzer, schlugen eine gewaltfreie Demokratiebewegung blutig nieder. Polen öffnete den Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft, Chinas KP-Führung entschied sich zur Einparteien-Diktatur mit Kapitalismus und ohne offene Gesellschaft. Beide Ereignisse verband Solidarność und Perestrojka. Der Runde Tisch in Polen, die Legalisierung der Solidarność und die Reformpolitik Gorbatschows inspirierten Chinas Jugend im Frühjahr 1989 zu gewaltfreien Protesten für die Reform des chinesischen Kommunismus. Als Ende Mai zu den Studenten Arbeiter dazu stießen und Freie Pekinger Gewerkschaften (!) formierten, verstand das Politbüro, dies sei eine gefährliche politische Mischung, die zur Geburt einer chinesischen Solidarność führen könnte. Vor dem Hintergrund polnischer Erfahrungen entschied die KP-Führung diesen Prozess gewaltsam zu stoppen. Die gewaltsam angehaltene Demokratisierung Chinas hat zwar zur Entwicklung eines Kapitalismus ohne offene Gesellschaft geführt, eine für viele Autokraten faszinierendes politisches Modell, doch China und seinen Nachbarschaften keinen Frieden gebracht, wie es der nun langjährige Konflikt in HongKong deutlich macht. Der Geist der friedlichen Revolution in Fernost ist nicht verflogen.
Reformunwillige Altkommunisten wie Erich Honecker oder Gustáv Husák waren von der chinesischen Lösung fasziniert. Das DDR-Fernsehen zeigte nach dem 4. Juni 1989 die Bilder vom blutigen Platz des Himmlischen Friedens in Peking als Warnung. Die Solidarność-Führung um Lech Wałęsa verstand dies freilich als ein Warnzeichen. Sie musste die polnischen Reformen vorsichtig vorantreiben, in weiteren Kompromissen mit Wojciech Jaruzelski aushandeln, um keine gewaltsame Eskalationen zu riskieren. Die chinesische Lösung schwebte auch als Schatten über Ostdeutschland, vor allem über Leipzig in den dramatischen Wochen des Septembers und Oktober 1989. Die vergessene Bedeutung der europäischen, gar weltpolitischen Dimension 1989 erstaunt besonders in Deutschland. Das vereinigte Deutschland, die Berliner Republik ist ein Kind dieser Revolution, hat vom Erfolg der mittel- und osteuropäischen Bürgerbewegungen stark profitiert, doch das ist heute in der Bundesrepublik weitgehend unterbelichtet. In den wichtigsten deutschen Museen oder in den Bildungsinhalten ist der europäische Kontext, so zum Beispiel der deutsch-polnische, des Umbruchsjahrs 1989 wenig präsent. Die Leipziger Bemühungen um eine europäische Erinnerungskultur sind in diesem Kontext bemerkenswert, sie schaffen das Gefühl der Nähe zwischen uns, Europäern.
Meine Damen und Herren,
Dass das Erbe der mittel- und osteuropäischen Bürgerrevolutionen heute europaweit zu wenig bekannt ist, hat viele Ursachen. Ich kann nur versuchen, einige wenige anzudeuten. Schon unmittelbar nach 1989-1990 hatte ich den Eindruck, im Westen Europas wurden die politischen Konsequenzen der Revolutionen in Mitteleuropa für den gesamten Kontinent unterschätzt. 1989-1990 war ein epochales Ereignis, doch für die meisten Westeuropäer kaum mehr als ein Zusammenbruch ineffektiver politischer und ökonomischer Systeme an der Peripherie des Kontinents. Transformation und Demokratisierung waren Begriffe, die nur die Europäer östlich der Elbe betrafen, nicht die im Westen. Dass die Europäer aus dem ehemaligen Ostblock auch etwas Wichtiges, Neues einbrachten, ihr politische Erfahrung des Lebens in Diktaturen, ihre kulturellen Kompetenzen, ihre hohe Bildung in allen Bereichen des Wissens und ihre Ambitionen als neue Bürger und Europäer ist unterschätzt worden.
In Deutschland war diese Unterschätzung des Ostens besonders deutlich erkennbar. So hatte ich nach der deutschen Vereinigung das Gefühl, die meisten Deutschen würden glauben, die alte Bonner Republik würde weiterbestehen, sei nach dem 3. Oktober 1990 lediglich um neue Bundesländer ergänzt worden. Die tiefgreifenden Veränderungen würden nur Berlin und den Osten erfassen, so der damalige Zeitgeist. Von der „nachholenden Modernisierung“ des Ostens war oft die Rede. Der Osten müsse nun die nach 1989 im Westen bewährten Muster der Demokratie annehmen und entsprechend den regionalen Gegebenheiten anpassen. Und es waren nicht nur die Westdeutschen und Westeuropäer, die diese Vorstellung vom Wandel teilten, auch viele Bürger der postkommunistischen Staaten nahmen zunächst ihre Transformation als „nachholende Modernisierung“ wahr. Der Zusammenbruch des Kommunismus wurde allgemein als Triumph des Westens interpretiert. Viele begannen erst in den letzten Jahren zu verstehen, dass eine ganz andere europäische Gemeinschaft und im Falle Deutschlands eine ganz neue Republik entstanden ist.
Im Westen Europas scheint diese Erkenntnis von der grundlegenden Neugeburt Europas nach 1989 sehr spät eingetreten zu sein. Und nicht alle haben ihre Konsequenzen, insbesondere die EU-Osterweiterung von 2004, akzeptiert. Es artikuliert sich sogar Widerstand gegen dieses neue, größere Europa. Die antiosteuropäischen während des Brexit-Referendums sind Zeugnis dieses Widerstandes, sind Beispiel für die Nichtakzeptanz des neuen, um neue Regionen und Kulturen bereicherten Europas. Sie sind aber nicht ausschließlich auf der britischen Insel stark präsent.
Es sind aber nicht allein die Fremdenfeindlichkeit, die Unkenntnis des mittleren und östlichen Europas oder die Angst vor der neuen Konkurrenz, die für eine negative Stimmung im Westen sorgen. Der Europakritische Zeitgeist, die Faszination für engere politische Identitäten, für neuen Nationalismus haben ihre Ursachen in einer anderen Revolution von 1989. Jenes Jahr markiert doch einen dramatischen, zivilisatorischen Wandel, dessen Wirken und Folgen wir erst heute einordnen können: Ich meine die digitale Revolution. 1989 ist das Jahr des Falls des Eisernen Vorhangs und gleichzeitig der Beginn des World-Wide-Webs, der digitalen Öffnung, der Globalisierung in seiner heutigen Form. Der britische Informatiker Timothy John Berners-Lee stellte am 12. März 1989 im europäischen Kernforschungsinstitut CERN das Konzept für eine neue Form der Datenverarbeitung und deren Vermittlung. In der Folge entwickelte er die Instrumente des World-Wide-Webs, wie die Seitenbeschreibungssprache, den ersten Browser und den ersten Webserver.
Vor drei Jahrzehnten wandelten sich damit die politischen und wirtschaftlichen Systeme im Osten, änderten sich Grenzen von Staaten, überdies wurden alle Bereiche unseres Lebens von einer technologischen Revolution erfasst: die private und öffentliche Kommunikation, unser Berufsleben, das Wirtschaften, die Medien- und Kulturwelt, der öffentliche Raum insgesamt, das Funktionieren von Demokratien. Alle Bereiche unseres Lebens sind von der digitalen Kommunikation revolutioniert worden. Nach 1989 waren wir auf die postkommunistische Transformation Europas eingestellt: die Vertiefung der europäischen Integration und eine nachholende Modernisierung des östlichen Kontinents. Doch was kam, war eine epochale zivilisatorische Revolution, die die gesamte Welt betraf!
Besonders schwer erwies sich dieser Prozess der Veränderung für die Menschen aus dem postkommunistischen Europa. Sie mussten sich in den Realitäten einer Demokratie und der kapitalistischen Wirtschaft zurechtfinden, und gleichzeitig wandelte sich die neue Welt fundamental. Von den unerwarteten Mühen, gar Stress einer doppelten Transformation könnte man hier sprechen. Angesichts dieses Zusammentreffens einer politischen und einer zivilisatorischen Revolution erinnert der Epochenwechsel von 1989 an den nach 1789, der Zeit der Aufklärung, der französischen Revolution und technologischer Veränderungen, die zur Industrialisierung des 19. Jahrhunderts geführt haben.
Meine Damen und Herren,
1989 ist ein Schlüsseldatum der Weltgeschichte und es ist daher erstaunlich, wie distanziert die Europäer zu diesem Erinnerungsort stehen. Vielleicht handelt es sich hierbei nicht um eine Missachtung, sondern um eine Flucht vor den zunehmend in ihren Konsequenzen als gefährlich empfundenen epochalen Veränderungen nach 1989. Diese distanzierte kritische Haltung zu den Folgen von 1989 ist in Gesamteuropa anzutreffen, auch an den Quellen der Revolution. Es ist weniger die Unzufriedenheit mit den ökonomischen und sozialen Folgen der nachkommunistischen Transformation, die antidemokratische, rechtspopulistische, fremdenfeindliche Stimmungen erzeugt. Es ist eher der Wunsch nach Schutz vor einer radikaler als erwartet eingetretenen zivilisatorischen Veränderung, der extreme politische Haltungen hervorruft. Im Westen ist die Distanz zu den neuen Europäern, die Sehnsucht nach dem alten, kleineren Westeuropa Ausdruck der neuen politischen Radikalität. Und im Mitteleuropa pflegen die Rechtspopulisten die Distanz zum multikulturellen, kosmopolitischen Teil des Kontinents, dem „politisch naiven“, weil auf Toleranz setzenden, Westen, der ihrer Ansicht nach gegenüber den östlichen Traditionen immer verschlossen gewesen sei. Dieser Nationalismus in Mitteleuropa wiederum bestätigt viele Westeuropäer in der Annahme, es gäbe eine natürliche Grenze für die Demokratie und die politische Rationalität auf dem Kontinent und diese ende traditionell an der Elbe, entlang des alten Eisernen Vorhangs.
Diese Vorstellung schafft Misstrauen, das Gefühl der Ausgrenzung und nützt im Endeffekt nur den Autokraten und Nationalisten als Legitimierung ihrer Politik des Abschließens, der Betonung der Distanz zum Nachbarn. Die prägenden politischen und kulturellen Konfliktlinien verlaufen heute nicht entlang der Grenzen, sondern gehen durch die Gesellschaften. Polens ist ein gutes Beispiel dafür. Mit ihrer nationalistischen Rhetorik, der Betonung der Distanz zu den Nachbarn und einer zivilisatorischen Kritik der westlichen Werte will die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) die Orbanisierung Polens fortsetzen. Ihre Politik erreicht unerwartete Rekordzustimmungen. Aus Angst vor einer Erosion ihrer institutionellen Autorität als Folge einer kulturellen Öffnung der Gesellschaft unterstützt die katholische Kirche die rechtspopulistische Politik. Dieses Bündnis wird möglicherweise der Regierungskoalition kurzfristig die Macht sichern, langfristig aber das gesellschaftliche und kulturelle Klima in Polen vergiften. Denn der Widerstand gegen die Orbanisierung Polens ist groß. Er ist stark vor allem in den städtischen Räumen, im Westen Polens und unter jüngeren Bürgern. Dieser Teil der polnischen Gesellschaft will sich von Europa und den Idealen der Revolution von 1989 nicht abwenden. Doch es ist sehr schwer die politische Wirkung dieses Lagers zu organisieren, denn es ist extrem pluralistisch, reicht von kapitalismuskritischen Linken, über Liberale zu verfassungstreuen Konservativen. Eine gemeinsame politische Agenda ist auf dieser Basis schwer herzustellen.
Zwischen der Regierungskoalition und ihren Opponenten findet ein erbitterter Streit um die Interpretation der politischen Traditionen statt. Um ihre rechte, antiliberale Revolution zu legitimieren stellt die Regierungspartei PiS die Glaubwürdigkeit der Solidarność-Autoritäten Lech Wałęsa, Bronisław Geremek, Władysław Frasyniuk, Bogdan Borusewicz oder Tadeusz Mazowiecki infrage, kritisiert die Politik der Kompromisse am den Runden Tisch 1989. Es ist nicht verwunderlich, dass diese Infragestellung der Werte der Revolution von 1989 sich ebenso auf die außerpolnische Wahrnehmung negativ auswirkt. Das Vertrauen vieler Europäer ist gegenüber den nationalistisch regierten Ländern Mitteleuropas stark gesunken, genauso wie die Identifikation mit ihren politischen Traditionen. Und wie soll die Attraktivität von Polens Solidarność, Solidarität, hell strahlen, wenn prominente polnische Politiker mit fremdenfeindlicher, homophober, nationalistischer Rhetorik, ein nichtsolidarisches Europa verteidigen?
Meine Damen und Herren,
Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft, schrieb George Orwell in seinem Roman „1984“. Der Streit um die Deutung des Revolutionsjahres 1989 ist zugleich der Streit um die Zukunft der Demokratie. Das wurde letztes Jahr in Danzig sichtbar, als rund 220.000 Menschen in den ersten Junitagen an den Geburtsort der Solidarność kamen, um an die ersten halbfreien Wahlen in Polen zu erinnern. Es war eine gesellschaftliche Bewegung gegen die Diskreditierung der Politik des friedlichen Wandels 1989 und gleichzeitig ein Plädoyer für ein weltoffenes, tolerantes und demokratisches Polen.
Auch auf der europäischen Ebene entscheiden wir mit der Deutung der Geschichte über die Zukunft des Kontinents. Europas politische Integration erschweren zum einen Defizite im Wissen um demokratische Traditionen, zum anderen das Fehlen einer europäischen Erzählung, die alle Teile des Kontinents umfasst. Im Westen Europas dominiert immer noch das Narrativ einer europäischen Integration der unmittelbaren Nachkriegszeit, die ihre Grundlagen in der westdeutsch-französischen Versöhnung und den Römischen Verträgen 1957 hat. Die Kulturen und Zivilgesellschaften des östlichen Europas, die zu den Revolutionen von 1989 geführt haben, sind in der europäischen Erzählung kaum präsent. Diese wichtige Lücke in der europäischen Identität hat Aleida Assmann, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2018, treffend analysiert. In ihrem neuesten Buch „Der europäische Traum“ bietet sie eine Perspektiverweiterung auf die Nachkriegsgeschichte des Kontinents an, ein gesamteuropäisches Narrativ. Sie deutet, meiner Ansicht nach ganz treffend, die europäische Integration als einen Prozess der von zwei grundlegenden Daten geprägt worden ist, von 1945 und nach 1989. Assmann spricht gar von der doppelten Gründung Europas in diesen Jahren. Als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg und die Ermordung der Juden sei nach 1945 eine neue Wertegrundlage und eine neue antinationalistische Vision von Europa formuliert worden. Nach 1989 hätten die osteuropäischen Gesellschaften zudem die Erfahrung von 40 Jahren Sowjetdiktatur hinzugebracht. „Ohne ein gemeinsames Wissen von der doppelten Gründung Europas“, so Assmann, „(…) kann Europa nicht existieren, keine Krisen bewältigen und sich nicht erneuern. Ohne eine europäische Verständigung über diese Geschichte und ihre bis heute anhaltenden Folgen ist es unmöglich, einen gemeinsamen Richtungssinn, und nichts anderes heißt ja Orientierung – in der aktuellen Krise entwickeln und eine gemeinsame Zukunft zu gewinnen.“
Die Kenntnis der europäischen Traditionen und die Bewältigung europäischer Krisen sind zwei miteinander zusammenhängende Kompetenzen, quasi zwei Seiten derselben Medaille. Ohne ein europäisches Geschichtsbewusstsein/Traditionsbewusstsein gibt es keine demokratische Zukunft Europas.
Meine Damen und Herren,
erlauben Sie mir, dass ich meine Rede mit dem tiefsten Dank an Sie, die Leipzigerinnen und Leipziger, beende. Sie haben nicht nur im Herbst 1989 einen entscheidenden Beitrag zum friedlichen Beitrag zum Wandel in Europa geleistet, sondern setzen sich auch heute dafür ein, dass der Leipziger, der sächsische, der deutsche und europäische Patriotismus zusammen wirken. Diese Vielfalt der Perspektiven und unserer Identitäten ist keine Infragestellung jeder einzelnen, sondern Voraussetzung für den politischen Pluralismus, Toleranz und ein starkes Verantwortungsgefühl für Europa.
Französische Demokraten beenden ihre Reden in der Regel mit dem Ausspruch: Vive la France, vive la République! Erlauben Sie mir in stiller Bewunderung der französischen Leichtigkeit des politischen Seins meine Rede mehr deutsch-polnisch, protestantisch-katholisch, also ökumenisch hier in Leipzig zu beenden, und zwar mit den Worten: Lang lebe die Demokratie, lang lebe das vereinigte Deutschland, lang lebe das demokratische Polen, lang lebe die deutsch-polnische Freundschaft! Und herrsche Frieden und der Geist der Solidarität in unserem europäischen Vaterland.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.