Frank-Walter Steinmeier: Rede zur Demokratie Leipzig, Gewandhaus, 9. Oktober 2019
„Nun zogen sie unter Tausenden. Ihnen war, als schwebten sie eine Handbreit über dem Boden. [...] Was sollte sich ihnen noch in den Weg stellen wollen.“
Was sollte sich ihnen noch in den Weg stellen wollen, schrieb Erich Loest in seinem Roman Nikolaikirche. Ihnen, den Menschen, die vor 30 Jahren hier in Leipzig mutig Geschichte geschrieben haben. Der große Schriftsteller erzählt in Nikolaikirche – viele von Ihnen werden den Roman und die Verfilmung kennen – von den letzten Jahren der DDR, bis zum 9. Oktober 1989. Zehntausende gingen damals in Leipzig für Freiheit und Demokratie auf die Straße. Niemand wollte sich ihnen noch in den Weg stellen. Niemand wagte es noch.
Der 9. Oktober war ein großer Tag in der deutschen Geschichte. Ich bin dankbar, dass ich heute hier sein kann, um diesen Tag mit Ihnen zu feiern. Es ist mir eine Ehre. Herzlichen Dank für die Einladung.
Ja, der 9. Oktober ist ein großer Tag für die deutsche Geschichte. Aber ich will, ich muss mit dem Heute beginnen. Denn bei meinen Reisen durch Deutschland – gerade in Gegenden, die sonst kaum im Mittelpunkt stehen – treffe ich immer wieder auf Menschen, denen wenig nach Feiern zumute ist. Viel weniger noch als bei manch früherem Jubiläum.
Heute, 30 Jahre nach jenem 9. Oktober, sehe ich vor mir ein starkes, aber ich sehe auch ein in Teilen verunsichertes Land.
Ich sehe ein Land, in dem sich Risse auftun. Risse, die sich auch in Wahlergebnissen widerspiegeln, aber mehr noch in der Art und Weise, wie wir übereinander und wie wir über dieses Land reden.
Ich höre von einem Land, in dem Menschen sich abgehängt fühlen – links liegen gelassen von Politik und, wie es manchmal heißt, Eliten. Ich höre von einer wachsenden Kluft, längst nicht nur zwischen Ost und West. Auch zwischen Lebenswelten: zwischen Stadt und Land, zwischen Arm und Reich. Ich höre junge Menschen, die sich von den Älteren verlassen, sogar verraten fühlen. Die fürchten, dass ihnen die Zukunft auf diesem Planeten geraubt wird. Ich höre von Jüdinnen und Juden, die beleidigt und angegriffen werden. Ich höre, dass unser Land zu viele Flüchtlinge und Zuwanderer aus anderen Kulturen aufgenommen habe und das Gefühl der Fremdheit im eigenen Land wachse. Ich höre aber auch, dass sich Bürgerinnen und Bürger mit Migrationsgeschichte zunehmend bedroht fühlen. Ich höre nationalistische und fremdenfeindliche Töne, die ganz offensichtlich an Verführungskraft gewonnen haben.
30 Jahre nach Friedlicher Revolution und Mauerfall höre ich Ostdeutsche, die sich unverstanden fühlen, und Westdeutsche, die davon nichts mehr hören wollen.
Ich sehe ein Land, das um seinen Zusammenhalt ringt.
Ist das unser Land? Ist das die ganze Wahrheit über unser Land? Ich sage Ihnen: sicherlich nicht.
Ich will deshalb einen anderen Blick versuchen. Denn wenn ich unterwegs bin, treffe ich auch auf Menschen, die ganz Erstaunliches zu erzählen haben. Ich höre ihre Geschichten, von Aufbrüchen und Umbrüchen, von Gelingen und Scheitern, von Hoffnungen und Enttäuschungen. Ich höre Geschichten, Lebensgeschichten, die – jede für sich – wohl kaum Epoche machten, aber die – in der ganzen Vielfalt von 82 Millionen – dieses Land geprägt haben. Denn wer sind wir, und was ist dieses Land, wenn nicht die Summe unserer Geschichten?
Ganz besonders beeindrucken mich die Geschichten dieser Stadt, die von der ungeheuren Kraft erzählen, die die Menschen damals, im Herbst 1989, auf die Straße trieb – von ihrer ungeheuren Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie, die sich Bahn brach in der Friedlichen Revolution.
Ich selbst brütete damals in einer Dachkammer meiner Gießener Universität über dem letzten Stück meiner Doktorarbeit. Ich wusste um die Sehnsucht, und ich bewunderte den Mut der Vielen hier. Aber ahnte ich wirklich, wie viel Mut erforderlich war, um aus anfänglichen Demonstrationen einen Aufbruch werden zu lassen, der zur Revolution wurde? Die Friedlichen Revolutionäre trafen sich – viele von ihnen schon lange vor 1989 – in Kirchengemeinden und Privatwohnungen. Sie kämpften gegen Umweltverschmutzung und Verfall, für mehr Mitsprache und Gleichberechtigung, für Meinungs- und Reisefreiheit und freie Wahlen. Und sie träumten auch von einem friedlichen und vereinten Europa. Sie gründeten Umweltbibliotheken und druckten Flugblätter, sie schrieben Resolutionen und Offene Briefe. Viele ihrer Forderungen fanden Eingang in den Entwurf für eine neue Verfassung, der später am Runden Tisch erarbeitet wurde.
Damals herrschte, so erzählen es mir die Menschen hier in Leipzig und anderswo, eine ungeheure Aufbruchsstimmung. Aber wer genau hinhört, der hört nicht nur von Aufbruch und Heldenmut in jener Zeit, sondern auch von Zweifeln und Angst. Von der Angst vor Willkür und Verfolgung; der Angst vor Gewalt, mal manifest, mal angedroht, ein ständiger Schatten bis in die Familien und Freundeskreise hinein. Wir gedenken heute auch der vielen Opfer von Willkür und Unterdrückung! Auch sie sollen an diesem 9. Oktober nicht vergessen sein.
Aber dann, in jenem Herbst vor 30 Jahren, geschah etwas Erstaunliches: Die Angst wechselte die Seiten.
Aus den wenigen wurden viele. Zuerst geschah das in Plauen am 7. Oktober. Zwei Tage später, am 9. Oktober, versammelten sich hier in Leipzig weit mehr als 70.000 Menschen zu Friedensgebeten und zur bis dahin größten Montagsdemonstration. Trotz der Angst vor einer „chinesischen Lösung“, die im Raum stand, wenige Monate nach dem Massaker am Tian’anmen. Trotz der Unsicherheit, ob das SED-Regime die Proteste niederschlagen würde.
Westlichen Journalisten hatte die SED verwehrt, nach Leipzig zu kommen. Aber sie konnte nicht verhindern, dass die Filmaufnahmen, die Siegbert Schefke und Aram Radomski vom Turm der Reformierten Kirche aus heimlich gedreht hatten, in den Westen geschmuggelt wurden. Als in den Tagen nach dem 9. Oktober diese Bilder durch die Wohnzimmer flimmerten, ahnten viele – in West und Ost: In der DDR war etwas im Gange, das nicht mehr aufzuhalten war. Die Angst hatte die Seiten gewechselt – und nach diesem 9. Oktober in Leipzig war in der DDR nichts mehr wie zuvor.
Viele dieser Mutigen sind heute im Saal. Kathrin Mahler Walther, Gesine Oltmanns und Ines-Maria Köllner, Uwe Schwabe, Tobias Hollitzer, Roland Jahn, Angehörige von Kurt Masur sind hier. Für die vielen wird gleich Freya Klier noch einmal das Wort ergreifen. Wie schön, dass Sie alle heute hier sind.
Ihre Geschichten haben deutsche Demokratiegeschichte geschrieben. Sie stehen damit in der besten Tradition unserer Geschichte, in der Tradition der deutschen Freiheitsbewegungen von 1848 und 1918. Ihre Geschichten sind außergewöhnliche Geschichten von Sternstunden unseres Landes. Sie haben unserer Demokratiegeschichte einen wichtigen Teil hinzugefügt. Ihnen, den Friedlichen Revolutionären, schulden wir nicht nur Respekt, wir schulden Ihnen gemeinsamen Dank. Und zwar aus Ost und aus West. Wir schulden Dank.
Denn: Die Mauer fiel nicht einfach. Die Menschen in der DDR brachten sie zum Einsturz – friedlich und ohne Gewalt. Vor dem Revolutionsherbst lag auch der Fluchtsommer 1989. Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger der DDR ließen alles zurück, suchten die Freiheit und fanden sie. Auch sie waren Teil des großen Umbruchs, auch ihre Geschichten machten Geschichte. Viele von diesen Geschichten sind noch nicht ausreichend erzählt, nicht einmal ausreichend gehört worden. Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung ist es an der Zeit, dass auch sie – diese ostdeutschen Geschichten – Teil unseres gemeinsamen deutschen Wir werden.
Zu diesen Geschichten gehören die Geschichten unserer europäischen Nachbarn. Der epochale Umbruch, an den wir heute mit dieser Festveranstaltung erinnern, wäre ohne den Freiheitskampf unserer östlichen Nachbarn vermutlich gar nicht möglich gewesen. In Polen hatten sich die Menschen schon jahrelang aufgelehnt gegen Diktatur und Unfreiheit. Massenproteste und Streiks, die Gründung von Solidarność und des Runden Tisches – trotz aller Rückschläge war die Demokratisierung nicht aufzuhalten. Der Funke sprang über auf andere Länder. Auf Ungarn, das im Frühjahr 1989 seine Grenzen öffnete. Auf die damalige Tschechoslowakei. Und was in Osteuropa geschah, hat ganz sicher auch die Menschen in der DDR ermutigt.
Heute wissen wir: Die Geschichte wäre anders verlaufen, hätte im Kreml Michail Gorbatschow nicht entschieden, keine Truppen zu senden; hätte Michail Gorbatschow die SED-Führung nicht zur Zurückhaltung gemahnt; hätten er und die westlichen Verbündeten nicht später der Einheit Deutschlands zugestimmt.
Das Glück der Deutschen Einheit, das sollten wir nicht vergessen, ist untrennbar verbunden mit dem Zusammenwachsen Europas und dem neuen Vertrauen, das unsere Nachbarn uns nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts wieder geschenkt hatten. Auch dafür dürfen wir Deutschen dankbar sein.
Aber Dankbarkeit ist eben nicht alles. Nein, wir Deutsche tragen eine besondere Verantwortung für das Gelingen dieses friedlichen und vereinten Europas. Es ist einmalig in der Geschichte dieses Kontinents. Wir tragen diese Verantwortung auch in Zukunft. Und wir nehmen sie besonders ernst in Zeiten, in denen einige versuchen, dieses Europa wieder auseinanderzutreiben. Auch dieses Versprechen gehört zum heutigen Tag.
Wer nur von den Sternstunden, vom Epochenwechsel jener Tage erzählt, der erfasst noch lange nicht alle Geschichten, die unser Land heute prägen, die nach- und fortwirken von damals in unsere Zeit.
Die Deutsche Einheit war ein gewaltiges Werk. Sie hat den Menschen in unserem Land viel abverlangt, denen im Westen auch, vor allem aber denen im Osten. Sie haben Umbrüche gemeistert in einem Ausmaß, wie meine Generation im Westen sie nie kannte. Und diese gewaltige Leistung ist, auch das gehört zur Erinnerung dazu, lange Zeit nicht ausreichend gewürdigt worden.
Die meisten Menschen im Westen haben den Umbruch eher aus der Ferne erlebt. Und viele glaubten, dass auch im vereinten Deutschland alles so weitergeht wie bisher. Das war – übrigens schon damals – eine große Fehleinschätzung. Auch der Westen ist nach der Einheit nicht derselbe geblieben, und ich sage: ein Glück für das vereinte Deutschland, dass das so ist!
Dieses wiedervereinte Deutschland, es ist geprägt durch viele Impulse aus dem Osten – gute Impulse, ein Antrieb zur Erneuerung. Ja, das SED-Regime hat eine Diktatur errichtet, die fortgesetzt Angst und Gewalt in die Gesellschaft trug. Und doch gab es auch Impulse aus einer mitmenschlichen Realität Ostdeutschlands, wenn ich das so sagen darf, die in manchem widerständig und eigenwillig, durchaus modern war. Ich denke an die selbstbewusste Rolle der Frauen, an eine soziale Infrastruktur von Kinderbetreuung, an ärztliche Versorgungskonzepte, die heute teilweise wiederentdeckt werden. Und, ja, es ist gewiss kein Zufall, dass es insbesondere ostdeutsche Frauen sind, die das wiedervereinte Deutschland an oberster Stelle geprägt und verändert haben.
Natürlich gab es auch viele im Westen, die etwas tun wollten. Westdeutsche, die neugierig waren, die mit angepackt haben beim Aufbau Ost, die in die damals noch neuen Bundesländer gingen – nicht nur der Karriere wegen, sondern weil sie den Umbruch, weil sie das wiedervereinigte Deutschland mitgestalten wollten. Viele fanden – neben spannenden Herausforderungen – auch eine neue Heimat im Osten.
Gewiss ist aber: Im Osten Deutschlands traf der Umbruch die Menschen ungleich härter als im Westen. Er traf jede einzelne Familie. Betriebe wurden stillgelegt, Millionen Menschen verloren ihre Arbeit, mussten mindestens umschulen. Eltern bangten, wie sie künftig für ihre Familien sorgen sollten. Und gerade die Jungen sahen oft keine Perspektive und gingen in den Westen. Dieser Aderlass von damals, insbesondere der 1990er Jahre, hat tiefe Spuren hinterlassen. In manchen Orten fehlt fast eine ganze Generation.
Oft höre ich Geschichten von Entwurzelung, von zerbrochenen Gewissheiten. Heute wissen wir – wie sollte es auch anders sein –, dass natürlich nicht alles alternativlos war, was damals geschah: von Betriebsabwicklungen bis zur Verfassungsfrage. Dass wissentlich und – wahrscheinlich mehr noch – unwissentlich Fehler gemacht wurden. Über die müssen wir reden. Wir müssen sie, wo möglich, auch korrigieren. Das ist Aufgabe von Politik.
Eine Aufgabe, die nach 30 Jahren nichts an Dringlichkeit verloren hat. Etwa mit Blick auf manch ländliche Gebiete, wo nur die Älteren zurückgeblieben sind und mit den Jungen auch Hoffnung und Perspektiven abgewandert sind. Hier ist die Politik gefragt, für funktionierende Infrastruktur, für gute Lebensverhältnisse zu sorgen. Lasst diese Leute mit ihren Sorgen und Nöten nicht allein. Nehmt ihre Probleme ernst und kümmert Euch: um Kindergärten und Schulen, Busverbindungen und Feuerwehr, Hebammen und Hausärzte, Jobperspektiven und Internet. Es sind die vermeintlich kleinen Aufgaben, die die Großen sind. Politik darf das nicht vernachlässigen.
Ja, die Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung waren schwierige Jahre des Umbruchs und der Anpassung und wirken zum Teil bis heute fort. Umso erstaunlicher ist, mit welchem Mut, mit welchem Pragmatismus und mit welcher Tatkraft Ostdeutsche die Herausforderungen angepackt und gemeistert haben.
Wenn ich in Ostdeutschland unterwegs bin, treffe ich Menschen, die verfallende Städte saniert und der Umweltzerstörung Einhalt geboten haben. Die erfolgreich für den Fortbestand von Betrieben gekämpft oder eigene Unternehmen gegründet haben.
Und immer häufiger höre ich auch Geschichten vom Zurückkehren. Heute zieht es eben auch viele Menschen von West nach Ost. Neuerdings sind es sogar ein kleines bisschen mehr, die in die östlichen Bundesländer gehen als umgekehrt. Das zeigt, dass die Einheit, auch drei Jahrzehnte später, nicht einfach starr und abgeschlossen, sondern dass der Weg dahin weitergeht und lebendig ist.
„Ostdeutschland ist ein besonderer Raum, mit besonderen Erfahrungen“, schreibt Ilko-Sascha Kowalczuk, und aus diesen besonderen Erfahrungen ist, gerade bei den Jungen, ein neues ostdeutsches Selbstbewusstsein entstanden. Ein Bewusstsein, das um die Unterschiede weiß, sie aber nicht ausschließlich als Mangel wahrnimmt.
Recht haben sie. Diese kulturellen, lebensbiographischen Besonderheiten – sie sind eben nichts, was man nur möglichst schnell hinter sich lassen musste, um dazuzugehören, wie viele Ostdeutsche in den 1990er Jahren glaubten. Sondern diese Besonderheiten sind eine Bereicherung für ein vielfältiges Land. Für ein Land, das aus vielen verschiedenen Regionen besteht und in dem es ja auch andere Regionen gibt, in denen es nicht gerade an Selbstbewusstsein mangelt.
Wir brauchen die Erfahrungen des Ostens mit Umbruch und Veränderung. Wir können Kraft schöpfen aus der Erinnerung, wie die Menschen gemeinsam aufgestanden sind für ein besseres Leben in einem besseren Land. Es macht uns Mut, dass Neues und Gutes geschaffen worden ist. Sie ist so unendlich wertvoll, diese ostdeutsche Erfahrung. Lasst uns davon etwas mitnehmen in unsere gemeinsame Zukunft.
Gewiss ist jedenfalls so viel: Die eine, die offizielle Geschichte der Deutschen Einheit gibt es nicht und ich sage voraus, sie wird es auch nicht geben. Die braucht man vielleicht auch gar nicht in diesem Land. Denn Geschichte setzt sich aus Geschichten zusammen – unser aller Geschichten. Und so unterschiedlich wir Deutschen sind, so vielschichtig ist unsere Geschichte.
Diese Vielfalt, diese Vielschichtigkeit ist kein Makel, sondern wir können darin eine Stärke entdecken. Demokratie und Diktatur, Teilung und Vereinigung, Friedliche Revolution und das Zusammenwachsen zweier Systeme, Zuwanderung und Integration – welches Land bringt eigentlich so viele, so unterschiedliche Erfahrungen in jüngster Vergangenheit zusammen? Lasst uns neugierig sein auf die unterschiedlichen Erfahrungen in Ost und West, von Alteingesessenen und neu Hinzugekommenen, und unsere gemeinsame Zukunft darauf bauen. Lasst uns einen neuen Solidarpakt der Wertschätzung schließen in unserer Gesellschaft.
Nein, es geht mir nicht um Stuhlkreise oder Symbolpolitik. Der Solidarpakt, den ich meine, er ist ein Angebot und eine Zumutung zugleich. Denn er bedeutet: „Du, auf der anderen Seite, gehörst dazu. Ich bin bereit, Dir zuzuhören – Deiner Geschichte, Deinem Standpunkt. Aber dasselbe erwarte ich – bitte sehr – auch umgekehrt.“
Dieser Solidarpakt ist ein Angebot, denn er sagt: In diesem Land ist Platz für viele Meinungen und Anerkennung keine knappe Ressource. Dieser Solidarpakt ist eine Zumutung, denn Anerkennung heißt: Anderssein ertragen und Andersdenken ertragen. Wer andere abschreibt, ausgrenzt oder aufgibt, der hat auch die Demokratie schon aufgegeben.
„Wir sind das Volk!“ Jener kraftvolle Ruf von damals bedeutet: „Wir alle sind das Volk!“ In einer Demokratie gibt es das Volk nur im Plural. Aus seiner Vielstimmigkeit eine Linie für gemeinsames Handeln zu entwickeln, bleibt die schwierige Aufgabe von Politik. Aber kein Einzelner und keine Gruppe dürfen jemals wieder für sich beanspruchen, allein für das selbsternannte wahre Volk zu sprechen. Auch das muss eine Lehre aus unserer Geschichte sein. Auch das haben wir gelernt, aus Nazidiktatur, SED-Regime und dem Befreiungsschlag der Friedlichen Revolution. Diese Lehre muss unsere gemeinsame sein, in Ost und in West. Nach 30 Jahren wünsche ich uns allen einen selbstbewussten Blick auf unser eigenes Land. Ich wünsche mir, dass wir in den hinter uns liegenden Jahren und Jahrzehnten nicht nur eine lange Kette von Brüchen, Krisen und Zumutungen sehen. Sondern dass wir die Menschen sehen, die diese riesigen Aufgaben geschultert und bewältigt haben – im Werden der Einheit, aber auch in dem, was folgte: der wirtschaftliche Aufstieg vom Schlusslicht Europas zu seinem Zugpferd, die Währungsunion und die Osterweiterung der Europäischen Union, die Solidarität und Entschlossenheit in der Finanz- und Wirtschaftskrise der späten Zweitausender, durch die wir Deutschen besser hindurchgekommen sind als viele andere in Europa. Und auch dies, ich will es nicht vergessen: die Aufnahme und Versorgung von über einer Million Flüchtlingen in den Jahren 2015 und 2016. Ich weiß, beim letzten Punkt, da fällt der Beifall nicht so leicht. Aber auch das war, bei allen bleibenden Herausforderungen, die wir überhaupt nicht kleinreden sollten, eine gewaltige Leistung der gesamten Gesellschaft, die nur gemeinsam möglich war und auf die wir gemeinsam stolz sein dürfen.
Wer so auf dieses Land schaut, mit Selbstbewusstsein und da, wo es Anlass gibt, auch mit ein bisschen Stolz, der kann mit Fug und Recht behaupten: Wir haben unsere Geschichte nicht erlitten – wir haben sie gemacht!
Und wer so auf dieses Land schaut, der kann auch darauf vertrauen: So wenig wir die Geschichte erlitten haben, so wenig müssen wir die Gegenwart erdulden oder vor der Zukunft erstarren.
Ja, es gibt Ungleichheiten, es gibt Nachteile, es gibt Probleme. Das anzuerkennen, vor allem zu verändern, bleibt ständige Aufgabe. Gerade weil wir nicht Opfer der Zeitläufe sind. Opfer sein, das passt nicht zur Demokratie. Nein, die Demokratie hat einen wunderbaren Gegenbegriff geschaffen und der heißt: Bürger.
Wir sind Bürgerinnen und Bürger, frei und selbstbestimmt, mit gleichen Rechten und mit gleichen Pflichten. Deshalb schmerzt es mich wirklich, wenn manche sagen: Die Ostdeutschen oder diese oder jene Gruppe seien Bürger zweiter Klasse. Wenn einzelne das so empfinden, dürfen wir uns nicht damit abfinden. Ich sage klipp und klar: Es gibt in unserem Land und nach unserer Verfassung keine Bürger erster oder zweiter Klasse.
Sondern es gibt die eine Bundesrepublik Deutschland – ihre Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, und mit ihnen die vielen Menschen, die hier leben und arbeiten. Und wir alle sind gemeinsam verantwortlich für eine gute Zukunft und ein friedliches Miteinander in unserem Land. Wir alle haben ein Anrecht darauf, Teil der gemeinsamen Zukunft zu sein.
Ja, es stimmt natürlich: Die Verantwortung liegt zuallererst bei der Politik. Sie muss sich kümmern, damit Kinder gute Bildung, ihre Eltern gute Arbeit, und ihre Großeltern gute Pflege bekommen. Aber damit ist es eben nicht getan. Die Verantwortung für unsere Demokratie, für unsere Zukunft, sie liegt auch ein gutes Stück weit bei jedem einzelnen Bürger, bei jeder einzelnen Bürgerin. Ich verstehe, dass manche diese Verantwortung als Überforderung empfinden. Es ist richtig: Manchmal braucht es Mut, sich dieser Verantwortung zu stellen, sie zu tragen.
Aber es gilt auch der Satz: Demokratie ohne mutige Demokraten – das kann nicht funktionieren. Das ist auch ein Erbe von 1989, das uns alle verpflichtet: Eine gelebte Demokratie braucht die Mutigen. Die Zuversichtlichen, die Macher. Und wer den Mut verloren hat, wer entmutigt ist, wer sich abwendet, der ist nicht schon allein deshalb gegen die Demokratie, aber er fehlt dieser Demokratie. Den dürfen wir niemals einfach achselzuckend ziehen lassen, sondern den müssen wir zurückgewinnen. Das können wir von diesem Land erwarten, das können wir uns als Bürgerinnen und Bürger zumuten. Das müssen wir uns zumuten, denn die Verantwortung für unsere Demokratie, die trägt nicht die Politik allein. Diese Verantwortung tragen wir alle!
Viele fragen sich in diesen Tagen: Was ist eigentlich geblieben von jenem Elan, von jener ungeheuren Kraft, die sich vor 30 Jahren auf den Straßen dieser Stadt und nach und nach in unserem ganzen Land Bahn gebrochen hat? Was ist geblieben?
Ich finde diese Fragen wichtig. Dass wir Kraft und Elan gut brauchen können, liegt auf der Hand. In Zeiten, in denen die offenen Fragen größer denn je scheinen – von Klimawandel und Digitalisierung zu Ungleichheit und Zusammenhalt –, aber die alten Antworten ganz offensichtlich nicht mehr tragen. In Zeiten, in denen die Zukunft unserer Demokratie uns umtreibt und die Demokratie der Zukunft noch keine Gestalt angenommen hat.
Ich bin mir sicher, es würde unserem Land gut tun, wenn wir das vielfältige Erbe der Friedlichen Revolution fürs Heute nutzen.
Lassen Sie uns anknüpfen an die Kraft zur Veränderung, die die Ostdeutschen 1989 und in den Jahrzehnten danach immer wieder aufgebracht haben!
Lassen Sie uns anknüpfen an den Mut, als Bürgerinnen und Bürger Verantwortung zu übernehmen!
Lassen Sie uns anknüpfen an die Tatkraft, Missstände und Ungerechtigkeiten zu beseitigen!
Lassen Sie uns anknüpfen an den Willen, Gräben zu überbrücken, Mauern einzureißen und immer wieder nach gemeinsamen Lösungen zu suchen!
Und – warum eigentlich nicht? – lassen Sie uns anknüpfen an die Tradition der Runden Tische, an denen voller Leidenschaft, unideologisch, offen und pragmatisch Politik gemacht wurde! Lassen Sie uns Formen finden, in denen wir Beteiligung und Mitgestaltung von Bürgern lebendig werden lassen. Es gibt auf lokaler Ebene schon viele spannende Ideen. Unsere Demokratie kann dadurch lebhafter und attraktiver werden. Ja, ich glaube, es ist Zeit für neue Runde Tische in diesem Land. Nicht zur Vermeidung von Streit, aber Streit mit Regeln und mit Respekt. Runde Tische statt Dauerempörung und Hasstiraden. Das könnte ein Weg sein, um unsere Demokratie stark zu halten.
Zum Schluss: Ja, es ist wahr. Nicht alle Hoffnungen derer, die hier am 9. Oktober auf der Straße waren, sind Wirklichkeit geworden. Die Einheit ist nicht abgeschlossen, sie ist Auftrag und es bleibt viel zu tun.
Aber erinnern wir uns an Erich Loest, wenn wir uns auf unsere Kraft besinnen: Was sollte sich uns dann noch in den Weg stellen wollen?
Wir leben in einem Land, in dem natürlich nicht alles gut ist. Aber es ist ein Land, das allen die Möglichkeit gibt, es besser zu machen.
„Und weil wir dies Land verbessern, lieben und beschirmen wir’s.“
Also lieben wir dieses Land, und geben wir aufeinander Acht!
Das sind wir denen schuldig, die vor 30 Jahren Mut hatten. Die dieses Land geeint haben. Die es zum besten Deutschland gemacht haben, das es je gab. Herzlichen Dank.