Johannes Rau: Rede zur Demokratie Leipzig, Gewandhaus, 9. Oktober 2001
Verschiedenheit achten - Gemeinsamkeit stärken
Manchmal heißt es in der Protokollsprache: "Der Bundespräsident beehrt einen Ort mit seinem Besuch".
Hier, an diesem Ort und am heutigen Tage gilt das Umgekehrte: Ich halte es für eine Ehre, dass ich an einem 9. Oktober in der Leipziger Nikolaikirche sprechen darf: An dem Ort, an dem sich im Verlaufe des Jahres 1989 jeden Montag immer mehr Menschen zum Friedensgebet versammelt haben; Menschen, die die eine Frage bewegte: Wie wollen wir hier gemeinsam leben? Ja: Wie soll es weitergehen mit uns, mit unserem Land?
Viele von Ihnen, die heute Nachmittag hier sind, werden am 9. Oktober 1989 dabei gewesen sein, als eine Welle hinausging aus diesem Kirchenraum, über die Stadt und das ganze Land, ja, weit darüber hinaus.
Ich danke Ihnen dafür, dass Sie heute hierher gekommen sind - auch wenn der Zugang zur Nikolaikirche offenbar nicht ganz so einfach war wie sonst. Leider leben wir in einer Zeit, in der solche Kontrollen - hoffentlich nur vorübergehend - nötig sind. Aber zum Glück ist es eben etwas fundamental anderes, ob der Staat sich, wie 1989, vor seinen Bürgern schützt - oder ob der Staat, wie heute, seine Bürger vor krimineller Bedrohung schützt. Das ist ein Unterschied.
Die Welle, die hier und an anderen Orten der DDR 1989 ausgelöst wurde, hat die staatssozialistische Herrschaft erschüttert und hat die Mauer zum Einsturz gebracht.
Im Rückblick mag es fast so scheinen, als wären die Ereignisse jener Tage und Monate mit einer gewissen Zwangsläufigkeit abgelaufen. Aber wer konnte am 9.Oktober 1989 wirklich wissen, wie eine verunsicherte und um ihre Existenz bangende Staatsmacht an jenem Abend und in jenen Tagen reagieren würde? Hatten wir nicht alle die bange Frage, ob sie auf die "chinesische Lösung" setzen würde, um der Freiheitsbewegung ein Ende zu bereiten?
Die Demonstranten haben der drohenden Gewalt die Macht der Gewaltlosigkeit entgegengesetzt. Sie haben dem Wahrheitsanspruch der Partei das Recht des Volkes entgegengehalten, sein Geschick selbst zu bestimmen. Sie haben gesiegt.
Der Sieg, den Sie errungen haben, mit Mut, mit Entschlossenheit und mit der Macht Ihrer Überzeugungen, war ein Sieg für uns alle in Deutschland und in Europa. Der 9. Oktober 1989 ist eines der großen Daten unserer Geschichte.
Nicht alle Hoffnungen, nicht alle Träume und Erwartungen jener Tage und Monate haben sich erfüllt. Gewiss, sehr Vieles hat sich zum Besseren gewendet. Und Demokratie ist eben auch ein mühsames Bohren dicker Bretter. Die Mühen der Ebene sind oft genug ernüchternd. Manche Enttäuschung lässt sich auch mit übertriebener Erwartung erklären - aber doch nicht nur damit.
Wer wollte bestreiten, dass manches besser hätte laufen können? Nicht überall sind wirtschaftlicher Umbau und Privatisierung geglückt; Arbeitslosigkeit und Abwanderung bleiben die großen Herausforderungen an uns alle. Deshalb wird auch dauerhaft die Solidarität aller Deutschen nötig sein, damit es im ganzen Land jene wirtschaftlichen Erfolge gibt, die Leipzig und seine Region verzeichnen können.
Ich bin zuversichtlich: Es gibt in unserem Lande genügend Kraft und guten Willen, damit wir die Chancen wahrnehmen, die sich uns bieten.
Noch nie waren Freiheit, Demokratie und die Menschenrechte weltweit so anerkannt und so verbreitet wie in den zurückliegenden Jahren. Das ist das wichtigste Erbe der friedlichen Revolution. Heute, nach den Terrorangriffen von New York und Washington, müssen wir uns aber fragen: Ist der Sieg, den die Montagsdemonstranten von Leipzig, die Werftarbeiter von Danzig und die Studenten von Prag 1989 und 1990 errungen haben, jetzt gefährdet?
II.
Vier Wochen liegen heute die furchtbaren Anschläge zurück - vier Wochen, in denen so Vieles infrage gestellt worden ist, was vorher galt, was uns wichtig war, was uns Ruhe, Sicherheit und auch Zuversicht gegeben hat. Wir können versuchen zu verstehen, einzuordnen und einige Überlegungen zu der Frage anstellen, wie es weitergehen mag. Seien wir aber vorsichtig mit vorschnellen und abschließenden Urteilen, genauso wie mit alten Reflexen und vermeintlich bewährten Erklärungsmustern!
"Die Zukunft der Demokratie" - so hieß das Thema, das mir ursprünglich für meine heutige Rede vorgeschlagen worden war. Das ist beileibe nicht obsolet geworden. Ganz im Gegenteil. Aber es hat eine ganz andere, eine neue Bedeutung bekommen. Ich will versuchen, meinen Blick heute darauf zu richten.
Die Leipziger Nikolaikirche und dieser Tag bieten sich besonders dafür an, darüber nachzudenken, wie wir die Zeit verstehen können, in der wir leben und von der manche sagen, sie sei eine Zeitenwende - wie wir das Geschehen verstehen und wie wir seine Folgen gestalten können.
III.
In den letzten Wochen ist gelegentlich die Frage gestellt worden, ob denn nun der "Kampf der Kulturen" begonnen habe oder bevorstehe, den Samuel Huntington seit 1993 in einem Aufsatz und dann in seinem bekannten Buch vorausgesagt hat. Er selber hat dazu kürzlich in einem Interview eine eindeutige Einschätzung abgegeben und gesagt, es habe sich in erster Linie um einen barbarischen Angriff auf die zivilisierte Gesellschaft der ganzen Welt gehandelt, um einen Angriff gegen die Zivilisation als solche. Und er hat hinzugefügt: "Es ist wichtig, dass dieses Verbrechen eben jetzt nicht den Kampf der Kulturen auslöst."
Das festzuhalten scheint auch mir wichtig: Es hat sich um gemeine Verbrechen gehandelt, um nichts sonst und wer immer für diese Tat verantwortlich ist, der muss bestraft werden.
Das festzuhalten erscheint mir auch deshalb wichtig, weil es auch in der öffentlichen Debatte gelegentlich manch relativierenden Rückzug gibt, der zum Verzicht auf Bestrafung rät. Dabei wird nicht nur auf die vermeintliche Aussichtslosigkeit von Strafaktionen verwiesen, sondern gelegentlich wird - direkt oder indirekt - Strafe mit Rache und Vergeltung gleichgesetzt.
Das Recht zeigt seine Überlegenheit über das Unrecht aber gerade dadurch, dass es auch durch die Strafe eine gestörte Ordnung schützt und wieder herstellt. Die angemessene Strafe bestätigt die Gültigkeit grundsätzlicher Werte und sie kann weiterem Unrecht vorbeugen.
Wenn dem Terrorismus kein Raum gegeben werden soll, dann gibt es also nicht nur ein Recht, auf Bestrafung zu bestehen, sondern es gibt auch die Notwendigkeit, angemessen und entschlossen gegen den Terrorismus vorzugehen. Ich sage das mit allem Nachdruck auch angesichts manches anti-amerikanischen Reflexes, der in der Debatte hier und da rasch wieder zu verspüren war. An unserer Entschlossenheit, gemeinsam zu handeln, dürfen wir keinen Zweifel aufkommen lassen - aus grundsätzlichen Erwägungen nicht und auch aus unmittelbarem, eigenem Interesse nicht. Die Angriffe in New York und Washington waren ja, auch das will ich noch einmal ganz deutlich wiederholen, Angriffe auf die ganze Menschheit, sie waren, wie der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen festgestellt hat, "eine Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit." Sie zielten auf Symbole in den Vereinigten Staaten, aber sie trafen uns alle.
IV.
Die Terroranschläge in Amerika und die Entwicklung seither haben uns etwas in Erinnerung gerufen, was eigentlich selbstverständlich ist: Ohne funktionierende staatliche Institutionen können wir nicht leben. Das ist in den letzten Jahren immer mehr dadurch in Vergessenheit geraten, dass es so schien, als sei gesellschaftlicher Fortschritt allein wirtschaftlichem Erfolg und seinen Instrumenten und Akteuren zu danken. Das ist eben nicht so. Ein Beobachter hat dieser Tage sehr konkret ausgedrückt, wie sehr wir darauf angewiesen sind, dass traditionelle gesellschaftliche und politische Institutionen funktionieren: "Die Schwerelosigkeit der neuen Ökonomie," so hat er notiert," bietet keinen Schutz vor herabstürzendem Beton; als einzige Hoffnung bleibt in solch einer Krise nur der Heldenmut der Feuerwehrleute und der Polizisten." Er hat Recht.
Allgemeiner gesagt: Die Bedeutung von Staat und Politik hat sich uns ganz neu vermittelt, ja wir sind froh darüber, dass wir ihre Einrichtungen haben. Ihre ursprünglichste Aufgabe wird ihnen abverlangt: Leib und Leben zu schützen, eine gesicherte Existenz zu gewährleisten und freies Zusammenleben möglich zu machen.
Zu den einschneidenden Erfahrungen der zurückliegenden Wochen gehört es zu erleben, wie ungeheuer verletzlich und wie gefährdet unsere Rechts- und Friedensordnung ist. Die gelungene Verbindung von Freiheit und Sicherheit ist nichts Selbstverständliches - wo verstünde man das besser als gerade hier, in Leipzig, wo Sie vor zwölf Jahren alles daran gesetzt haben, genau dieses Ziel zu erreichen: Freiheit und Sicherheit in einen demokratisch gesicherten Ausgleich zu bringen. "Wir sind das Volk!" - das war und ist der Ruf derer, deren Stimme bis dahin nichts galt, die nicht gehört oder die unterdrückt wurden.
V.
Es hieße den Terrorismus zu legitimieren, wenn man den mörderischen Anschlägen in Amerika einen Sinn unterschieben wollte. Es gibt sie nicht, die geheime Würde des Terrors, hat ein Beobachter dazu kürzlich angemerkt. Zu Recht haben wir uns auch geweigert, den kruden Gedankengängen der Terroristen Bedeutung zu verleihen, die im Namen der Menschheitsbefreiung Deutschland in den späten 70er und in den 80er Jahren mit Morden und mit Anschlägen überzogen haben.
Dem Wunsch, zu morden, muss Einhalt geboten werden - durch den Staat, der als einziger das Recht hat, Gewalt auszuüben - im Innern durch Polizei und Justiz oder international, in Übereinstimmung mit der Völkergemeinschaft. Wo der Einzelne dies Recht nach Gutdünken für sich reklamiert, da bedarf es der staatlichen Gegengewalt - und wo nötig, auch militärischer. Diesen Widerspruch müssen wir aushalten: Wir müssen Gerechtigkeit und Frieden notfalls dort auch mit militärischen Mitteln durchsetzen, wo sie durch Gewalt bedroht sind und wo der Dialog verweigert wird. Ich weiß selber nur zu gut, wie schwer das manchmal auszuhalten ist. Und ich kann mir denken, das vielen von Ihnen, die Sie aus der Tradition der Friedensbewegung kommen, das auch schwer fällt.
Daher gilt auch: Wollen wir als Zivilisation bestehen, dann müssen wir mit der Herausforderung durch den Terrorismus in einer Art umgehen, die unserer Zivilisation gerecht wird. Nur wenn wir vor uns selber bestehen, können wir gewinnen. Der Zweck heiligt auch diesmal nicht jedes Mittel. "Selbst unsere Vorstellung von Demokratie", so war bereits zu hören, müsse "subtilen Anpassungen an die Realität unterliegen" oder auch, ich zitiere: "Seit dem 11. September ist der Begriff der Menschenrechte politisch unbrauchbar geworden".
Hüten wir uns davor, genau die Grundsätze, die wir doch eigentlich verteidigen wollen, mit dem Hinweis aufzugeben, das sei nun einmal der Preis der Verteidigung!
Zum Glück sind es nur einzelne Stimmen, die so etwas fordern.
Der Erfolg unseres Handelns wird auch weiter davon abhängen, ob wir mit jener zivilisatorischen Angemessenheit reagieren, die die Auseinandersetzung verlangt.
Noch wissen wir nicht, was die weitere Entwicklung erfordert und zu welchen Handlungen die internationale Gemeinschaft gezwungen sein wird. So viel lässt sich aber doch sagen: Die Stärke der unmittelbaren Reaktion lag darin, dass sie eben nicht einem vermeintlich natürlichen Reflex entsprach, ja dass sie Erwartungen an ein bestimmtes, vermeintlich stereotypes Verhalten geradezu enttäuschte. Die Handlung lief eben nicht ab wie in einem Film, bei dem man vorher weiß, wie er ausgehen wird. Den Satz "Das wird ein Showdown" hat nicht der amerikanische Präsident ausgesprochen, sondern der Botschafter der afghanischen Diktatoren in Pakistan.
Wer provoziert wird, der läuft Gefahr, Schwäche zu zeigen, indem er fehl- oder überreagiert. Genau das hat die amerikanische Regierung in den zurückliegenden Wochen vermieden. Sie hat auf die Option der Gegengewalt zwar nicht verzichtet hat, ihre Reaktion jedoch umsichtig vorbereitet und umfassend abgestimmt. Damit hat sie Stärke bewiesen.
VI.
Die Bereitschaft zur internationalen Kooperation und Konsultation ist die beste Gewähr dafür, dass eine Auseinandersetzung, die sich möglicherweise lange hinziehen wird, auch auf Dauer erfolgreich sein kann. Gemeinsamem Handeln muss gemeinsames Beraten vorausgehen, zur Kooperation gehört der Interessenausgleich.
Die Vereinten Nationen haben sich umgehend und entschieden auf die Seite der Vereinigten Staaten gestellt. Mit ihrer raschen, geschlossenen und eindeutigen Reaktion haben sie Handlungsfähigkeit gezeigt und ihre Rolle unterstrichen, die Rolle, Ort der Meinungs- und Konsensbildung der Staatengemeinschaft zu sein. Die Vereinten Nationen legitimieren die Ausübung militärischer Gewalt durch ihre Mitgliedstaaten und sie bleiben zugleich der Ort, an dem diese Mitgliedstaaten ihre Bemühungen um eine weltweite Sicherung des Friedens auf vielen Gebieten koordinieren.
Die historische Entwicklung hat die Staatengemeinschaft näher zusammengeführt. Diese Situation muss dazu genutzt werden, die Zusammenarbeit auf vielen Gebieten voranzubringen. So lässt sich im Rahmen der Vereinten Nationen die Zusammenarbeit bei der Luftfahrtkontrolle, von Polizei und Justiz weltweit verbessern und die Weltstrafjustiz ausbauen. Vor allem aber können die Vereinten Nationen eine stärkere Rolle in der internationalen Ordnungspolitik spielen - bei der Entwicklung, bei der Armutsbekämpfung, bei der Zusammenarbeit der Kulturen und beim Abbau des Nord-Süd-Konflikts.
VII.
Die Herausforderung durch den Terrorismus hat eine ungeheure, furchteinflößende Dimension. Aus der Ungewissheit darüber, zu welchen Schreckenstaten verblendete Selbstmordattentäter noch bereit sein werden, entsteht Angst. Wenn die Regierungen sich durch diese Angst nicht lähmen lassen, dann werden sie erkennen, dass jetzt der Moment gekommen ist, andere Streitigkeiten und Konflikte beizulegen: So im Nahen Osten, so auf dem indischen Subkontinent. Die russische Regierung ist zu enger und vertrauensvoller Zusammenarbeit bereit; Präsident Putin hat das in seiner eindrucksvollen Rede im Bundestag am 25. September und in seinen Gesprächen mit uns nachdrücklich unterstrichen. Auch China hat in den Vereinten Nationen dazu beigetragen, dass die Staatengemeinschaft angesichts der terroristischen Bedrohung mit einer Stimme spricht.
Aus der Bedrohung durch den Terrorismus können auch Chancen erwachsen. Natürlich wird es nie ganz gelingen, jeder verbrecherischen Bedrohung in jedem einzelnen Fall mit abgestimmten internationalen Operationen wirksam zu begegnen. Aber je stärker die internationale Staatengemeinschaft sich jedoch darauf verständigen kann, an einem Strang zu ziehen, desto besser werden wir dem Terrorismus langfristig effektiv begegnen.
Wenn wir die Chance richtig nutzen, die uns die Krise eben auch bietet, dann werden wir auch erkennen, dass wir uns künftig keine Zonen der Gleichgültigkeit mehr leisten dürfen. Es kann uns nicht gleichgültig sein, welche Richtung bestimmte Entwicklungen in Afrika, in Asien oder Lateinamerika nehmen - nicht allein, weil sich zwischen einzelnen Staaten neue Krisen anbahnen können. Nein, unser Interesse muss auch der Entwicklung innerhalb einzelner Staaten gelten.
Eine solche Forderung kann leicht missverstanden werden. Genau dieses Interesse ist es schließlich gewesen, das den Amerikanern und ihren Partnern - also auch uns - in der Vergangenheit allzu oft vorgeworfen worden ist: Weltweit erhebe der Westen den Anspruch, seine politischen, wirtschaftlichen, moralischen und kulturellen Vorstellungen durchzusetzen. Genau daraus resultierten doch, so war zu hören, der Hass und die Gewaltbereitschaft von Menschen, die ihrer materiellen Existenz und ihrer kulturellen Identität beraubt seien. Der libanesische Dichter Abbas Baydoun ist zu dem Schluss gekommen, ich zitiere: "Für viele bedeutet die Globalisierung nichts anderes als die endgültige Vertreibung, die Besetzung noch der letzten Peripherie. Jeder unerreichbare wissenschaftliche und technische Fortschritt bedeutet, außerhalb des Lebens zu bleiben. Für viele ist die Welt heute ein Planet der Vertreibung. " So Abbas Baydoun.
Wir müssen uns nicht fragen, welcher Irrsinn den Täter antreibt, der eine vollbesetzte Passagiermaschine in ein Hochhaus fliegt. Aber wir müssen uns doch fragen, was jene bewegt, die die Terrorangriffe billigen oder die sie gar bejubeln - laut und vor den Fernsehaugen der Weltöffentlichkeit, oder im Geheimen. Wir alle wissen, dass es dafür nicht eine Erklärung gibt. Aber wer wollte bestreiten, dass die düstere Analyse des libanesischen Dichters tatsächlich das Gefühl vieler Menschen in den Ländern der südlichen Hemisphäre wiedergibt?
Die Globalisierung bringt uns unbestreitbare Vorteile. Für sehr viele Menschen ist sie die Sicherung ihrer Existenz, wenn nicht sogar mancherorts eines - vielleicht auch nur bescheidenen - Wohlstands. Und wirtschaftliche Not allein treibt wohl kaum jemanden zu solch schrecklichen Selbstmordanschlägen. Aber es gibt andere Auswirkungen der Globalisierung, auf die wir schauen müssen, wenn wir verstehen wollen, ob es Zusammenhänge gibt zwischen ihr und der Bereitschaft vieler Menschen, auch noch so grausame Terrorakte gegen die Führungsmacht einer globalisierten Welt gut zu heißen. Genau davon spricht auch Abbas Baydoun.
VIII.
Ein Grund ist sicher das Gefühl, immer weniger Einfluss zu haben auf alles, was das eigene Leben bestimmt. Der englische Soziologe Zygmundt Bauman hat konstatiert: "Man könnte sagen, dass mit der Globalisierung alle Macht aus historisch gewachsenen Institutionen entwichen ist; Institutionen, die früher den Gebrauch und den Missbrauch von Macht innerhalb moderner Nationalstaaten kontrolliert haben. In seiner jetzigen Form bedeutet Globalisierung die Entmachtung des Nationalstaates, ohne dass es einen wirkungsvollen Ersatz gibt."
Nun will und kann niemand das Rad der Geschichte zurückdrehen. Regionale Zusammenschlüsse - wie etwa die Europäische Union - zeigen aber, es gibt neue Wege sinnvoller Machtverteilung zwischen regionalen, nationalen und supranationalen Entscheidungsebenen.
Vor allem müssen wir uns die Frage stellen, ob wirtschaftlicher Fortschritt - der wünschens- und erstrebenswert ist - immer mit der Preisgabe kultureller Identität einhergehen muss, mit dem Verlust historisch gewachsener Bindungen und religiöser Überzeugungen. Viele Menschen sind am tiefsten durch den Verlust ihrer Würde getroffen. Sie können es vielleicht nicht einmal sagen, aber sie spüren doch genau, wie wenig ihre Überlieferungen, ihre Kultur, ja einfach: ihr Anderssein respektiert wird, wenn es darum geht, dem wirtschaftlichen Fortschritt den Weg zu ebnen. Sie empfinden ein Gefühl der Minderwertigkeit, ja der Erniedrigung.
Nein, es geht nicht darum, mit dem Hinweis auf problematische Auswirkungen der Globalisierung Schuld und Ursachen des Terrorismus nun bei uns selber zu sehen. Aber es muss darum gehen, Zusammenhänge zu erkennen zwischen wesentlichen Entwicklungen unserer Zeit und der Verzweiflung vieler Menschen. Und es muss darum gehen, Möglichkeiten zu finden, den Propheten der Gewalt den Nährboden zu entziehen.
Voraussetzung dafür ist, dass überall auf der Welt grundlegende menschliche Bedürfnisse befriedigt werden. "Diese Bedürfnisse", so hat ein Beobachter kürzlich angemerkt, "haben eine solche Macht, dass Menschen sie um jeden Preis zu befriedigen trachten - selbst um den persönlicher Verwirrung und gesellschaftlichen Aufruhrs." Dazu gehören Identität und Anerkennung, das Streben nach Sicherheit und nach Entwicklung. Der Schlüssel liegt darin, Entwicklung, Demokratie und Menschenrechte zu fördern und die Wirtschaftsordnung an den Zielen von Solidarität und Gerechtigkeit auszurichten.
IX.
Vielleicht ist mit den bisherigen Überlegungen auch umrissen, zwischen welchen Polen sich das Interesse bewegen muss, das wir künftig für die Entwicklung in anderen Staaten haben müssen.
Wir dürfen einerseits nicht von jenen grundlegenden Werten absehen, die sich ganz unabhängig davon bewährt haben, ob sie ursprünglich einen bestimmten Kulturraum zuzuordnen sind. Die sich bewährt haben, wenn es darum geht, die Würde und Unversehrtheit des Einzelnen und eine möglichst umfassende Mitwirkung aller am Geschick ihres Gemeinwesens zu gewährleisten. Ich halte es für eine befremdliche Behauptung, bestimmte Völker seien für demokratische Regierungsformen nun einmal nicht geeignet. In wie vielen Ländern haben die Menschen ihren Willen nie artikulieren können, weil traditionelle Herrschaftsgruppen sie daran gehindert haben! Und wie oft konnten solche Regime am Ruder bleiben, weil sie sich zur Zeit des Kalten Krieges oder auch danach als geeignete Partner für strategische oder wirtschaftliche Allianzen der ein oder anderen Seite anboten!
Erinnern wir uns auch daran, dass manche der sozialistischen Diktaturen den Terrorismus unterstützt haben oder sich selber solcher Mittel bedienten, um ihre Gegner zu bekämpfen. Mit dem Verschwinden dieser Diktaturen war auch bestimmten terroristischen Aktivitäten der Boden entzogen. Auch deshalb müssen wir ein Interesse daran haben, Diktaturen in vielen Ländern zum Wandel zu bewegen. Oft genug sind das auch Regime, die unsere Kultur verzerrt darstellen und verteufeln, weil sie von eigenen Fehlern ablenken und sich Zustimmung zu ihrer despotischen Herrschaft erschleichen wollen.
Wir haben auch ein ganz praktisches Interesse daran, dass die Demokratie sich in möglichst vielen Ländern durchsetzt: Wo es demokratische Kontrolle gibt, da dürfen wir darauf vertrauen, dass die Mittel, die wir zur Entwicklung anderer Länder zur Verfügung stellen, auch angemessener verwendet werden, als das bislang vielfach der Fall ist. Wo es kritische Opposition und Meinungsfreiheit gibt, fällt es Herrschenden schwerer, sich unbeobachtet die Taschen zu füllen.
X.
Wir müssen darauf bestehen, dass Demokratie und Menschenrechte weltweit uneingeschränkt Gültigkeit haben, denn sie sind eben nicht Teil westlicher Ideologie, sondern ein überall geachtetes Prinzip. Das heißt allerdings auch zu akzeptieren, dass demokratische Herrschaft durchaus verschieden organisiert und ausgeübt werden kann. Allein in Europa kennen wir ja schon genug unterschiedliche Modelle. Im Kern geht es stets darum, die Stimme jedes Einzelnen gelten zu lassen, jedem die Chance zu eröffnen, auf sein Geschick und auf das seines Landes Einfluss zu nehmen. Ein französischer Dichter und Essayist marokkanischer Abstammung, Tahar ben Jelloun, hat dazu gesagt: "Das verschüttete Selbstbewusstsein als unübertönbare Einzelstimme und freier Wille muss gehoben werden. Das wäre eines der besten Mittel, um Religionsfanatismus zu bekämpfen und den Anschluss an die Moderne zu finden."
In unserem Einsatz für die weltweite Geltung von Demokratie und Menschenrechten sind wir aber nur dann glaubhaft, wenn wir gleichzeitig stärker als bislang bereit sind, kulturelle, wirtschaftliche und politische Identitäten und gesellschaftliche Gestaltungsideen anderer zu respektieren.
Das ist der andere Punkt, an dem wir unser künftiges Handeln ausrichten sollten. Zusammenarbeit wird uns nur gelingen, wenn wir Respekt vor der Verschiedenheit haben. Die Politiker Europas versichern ständig, dass die Einigung Europas nur dann erfolgreich sein wird, wenn wir diesen Grundsatz streng beachten. Er muss aber auch gleichermaßen weltweit gelten.
Wenn wir diese Grundsätze beachten, dann wird es uns auch gelingen, dauerhaft erfolgreich mit denen zusammenzuarbeiten, die in ihren Ländern in einer Tradition der Toleranz und der Menschlichkeit leben, denn sie bildet den wahren Kern aller großen Kulturen und Religionen. Das gilt gerade auch für den Islam. Wenn wir diese große Tradition und Kraft des Islam respektieren, dann dürfen wir von den Regierenden in islamischen Staaten, von islamischen Gläubigen und Geistlichen auch erwarten, dass sie sich mehr als bisher einsetzen für die Unterscheidung von Religion und Politik, für den Aufbau einer Laiengesellschaft unter strikter Achtung der jeweils persönlichen religiösen Überzeugung. Die Religionsfreiheit ist auch in unseren Ländern der erste Schritt gewesen hin zu einer umfassenden Achtung der Menschenrechte. Wo sie gewährt wurde, da wurde Gleichheit trotz unterschiedlicher religiöser Überzeugungen anerkannt. Freiheit und Gleichheit sind das Fundament der Demokratie.
Wenn wir uns dafür einsetzen, dass die Prinzipien von Demokratie und Menschenrechten weltweit Gültigkeit gewinnen, dann kann das erfolgreich nur in einem wirklichen Dialog geschehen. Das schließt ein, dass auch Vorstellungen und Forderungen anderer Kulturkreise uns gegenüber erhoben werden, unser Verhalten zu korrigieren oder zu ändern. Das darf uns dann nicht als Zumutung erscheinen. Wie gehen wir um mit dem Vorwurf, unsere Gesellschaften seien von weitgehendem Werteverlust, von überbordendem Materialismus und rücksichtslosem Individualismus geprägt und wir exportierten solche Vorstellungen zum Schaden anderer Kulturkreise? Wir müssen bereit sein, uns auch solchen Fragen kritisch zu stellen und gegebenenfalls Konsequenzen zu ziehen.
Die internationale Gemeinschaft ist entschlossen, dem Terrorismus keinen Raum zu geben. Aus gemeinsamem Handeln in Gefahr allein erwächst aber noch keine neue Ordnung nach dem Ende alter Konfrontationen. Wenn wir aber bereit sind, ganz anders als bisher Verschiedenheit zu respektieren und danach zu handeln, dann können Anstöße für eine Ordnung entstehen, die über den Tag hinausweist.
Gelingt uns ein aufrichtiger Dialog, gelingt uns die Zusammenarbeit, dann können wir den Terrorismus besiegen und Neues gestalten - aus der friedlichen Stärke unserer verschiedenen und in vielem doch so ähnlichen Religions- und Kulturtraditionen heraus.