Golineh Atai Rede zur Demokratie Leipzig, Nikolaikirche, 9. Oktober 2023
Es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Gäste in der Nikolaikirche,
wie sehr wünschte ich, ich wäre heute bei Ihnen – aber ich kann derzeit Kairo nicht verlassen, weil die Region, in der ich als Korrespondentin für das ZDF arbeite, seit Samstag noch labiler geworden ist. Weil der Terror der Hamas leider viele Wellen schlagen kann.
Gute Nachrichten sind rar hier. Umso mehr freute ich mich, als – einige Stunden vor dem Grauen dieses Terrorangriffs – der Friedensnobelpreis verkündet wurde. Die iranische Bürgerrechtlerin Narges Mohammadi berichtet aus der Haft, dass sie und viele Frauen den Preis als Zeichen der Ermutigung feierten, mit Freudentränen in den Augen, dass sie lachten und Lieder sangen.
Es gibt ein Lied, das alle Iranerinnen und Iraner singen, wenn sie von verlorenen und noch nicht verlorenen Hoffnungen erzählen wollen.
Vogel der Morgendämmerung, sing und klage! Erneuere meinen brennenden Schmerz! Zerschlage diesen Käfig mit deinem Wehklagen! Du Nachtigall mit zusammengedrückten Flügeln, komm´ aus der Ecke deines Käfigs heraus - und sing das Lied der Freiheit für die Menschheit!
(…) Oh Gott, Oh Universum, Oh Natur – lasset die Dämmerung unsere dunkle Nacht beenden!
Es war wohl kein Zufall, dass die erste Frau, die in der Öffentlichkeit unverschleiert auftrat und sang, als erstes ausgerechnet dieses Lied sang. Das war 1924. Aber das Ende der Nacht, das sie beschwor, ist noch nicht gekommen.
In dieser Kirche erklangen diese Hoffnungen auch. Schlug der Vogel mit seinen Federn auch gegen den Käfig. Gegen eine Mauer. Beklagten die Menschen auch das Ende der Wahrheit, das Ende der Rechtschaffenheit und Ehre, so wie im Lied. Sie zündeten Kerzen an und warteten darauf, dass der Vogel den Aufstieg der Helligkeit besingt. Aus einer Ihnen vielleicht etwas ungewohnten Perspektive erinnere ich heute an diese Tage und an diese Menschen hier in der Nikolaikirche, weil mir ihr brennender Schmerz von damals altbekannt erscheint. Danke, dass ich hier daran erinnern darf – an das, was Bürgerbewegungen weltweit verbindet.
In den Ländern, in denen ich arbeite, ist Gewalt ein stetes Merkmal des Aufbegehrens und der Umschwünge. Der Pfarrer Hans-Jürgen Sievers drückte mir einmal sein Stundenbuch einer deutschen Revolution in die Hand. Beim Lesen packte mich das Erstaunen - dieses Gefühl, dass die guten Dinge hier - für einige Wochen - wie im Traum zusammenflossen, wie geleitet von einer höheren Macht: dieses Zusammenkommen in einem Andachts- und Zufluchtsraum. Zehntausende Demonstrierende, die ruhig blieben, selbst wenn sie sich dicht aneinanderdrängen mussten. Das Vermitteln und Dazwischengehen von Geistlichen, wenn es zwischen Bürgern und Staat zur Gewalt kam. Die demokratische Sehnsucht als Fürbitte formuliert. Die Predigt, die an den gewaltlosen Weg der schwarzen Bürgerrechtler erinnerte. Die Wörter „Besonnenheit“ und „Friedfertigkeit“ in allen Appellen. Und in einem Hirtenbrief die Sätze „Die Wahrheit muss an den Tag. Wahrheit zerstört nie. Wahrheit baut immer auf.“ Die Authentizität der führenden Köpfe dieser Bewegung. Die Tränen der Polizisten, als sie die „Schließt -Euch-an“ Rufe der Menge hörten. Und – wie in einem Traum – dieses sich-von-innen-Auflösen des Staats, die Kapitulation der Sicherheitskräfte im Angesicht der Massen, die sie so nicht erwartet, auf die sie sich so nicht vorbereitet hatten… .
Sicher, ich vergesse nicht die Inhaftierten, ich vergesse nicht diese Angst vor den Montagen, die Gummiknüppel der Volkspolizei, die Verunglimpfung der Demonstranten als Randalierer und Rowdies – mir so vertraute Bezeichnungen - überall auf der Welt haben Autokraten das gleiche Vokabular für die, die Rechenschaft einfordern. Sicher, ich vergesse nicht, dass Revolutionen nie gegen starke Herrscher siegen können, und dass sie immer von einer Minderheit getragen werden. An diese Impulsgeber in der Minderheit will ich erinnern. An ihr Bewusstsein, ihren jahrelangen Kampf, ihre Sprache, die die Revolution prägte, ihr Vermächtnis. Ihre Kritik richtete sich an zwei Systeme. Ihre Forderung nach Gerechtigkeit umfasste mehr als den Rechtsstaat und ging über Deutschland hinaus. Ihre Idee von Demokratie als politischer Bürgerbewegung ging über Politik als Wahlkampfversprechen und Parteiritual hinaus. Wie sehr wünschte ich mir, dass diese Wörter und Begriffe - die Erinnerung an die Macht der Straße, der Begriff der Freiheit - heute gerade nicht von anti-demokratischen Kräften umgedeutet, ausgehöhlt, und für eigene Zwecke missbraucht werden.
Sechs Monate nach dem Leipziger Herbst besuchte ich mit meiner Schulklasse und meinen Lehrern Berlin. Ich spazierte, so kam es mir vor, teils wie in ein gelungenes Experiment hinein, teils wie in ein Labor der Geschichte. Die Gedanken und Fragen aus dem Elternhaus tönten im Hinterkopf, als ich – so frei, unbeschwert, neugierig - unter den Linden spazieren ging. Ich weiß noch, wie ich mich fragte: Wie konnte es gelingen? War das, was passierte, nun das Beste-aller-Welten-Szenario? Ist im neuen Deutschland wirklich alles alte Denken abgestreift? Und überhaupt: Wie konnten Bürgerrechtler ihre Angst loswerden, Gewohntes zu verlassen, mit allem zu brechen und in völlig neuen Strukturen zu denken – alles, um für die Demokratie zu kämpfen? Würde eine solche Epochenwende auch woanders so möglich sein, sich ein solches Bewusstsein auch woanders durchsetzen? Wie konnte es gelingen, ganz unterschiedliche Kräfte zu bündeln für ein gemeinsames Ziel – Freiheit und Demokratie?
Wahrscheinlich kamen all diese Fragen auf, weil ich immer „im Abgleich“ gelebt habe. Weil in meinem eigenen Leben nie die Frage verschwand, die wir uns als Familie stellten: wie und warum wir in der ersten Heimat grundlegende Freiheiten verloren hatten, was die Willkür dort mit den Menschen machte und wie die Diktatur mit ihren Medien eigene Wirklichkeiten kreierte. Mein Leben und später mein Beruf katapultierten mich in mehrere unterschiedliche Lebenswelten hinein. Im deutschen Schulbuch lernte ich etwas über Aufklärung, über Aufarbeitung von Schuld. In meinem Persisch-Lehrbuch zuhause ging es um den „Feind“, den „Obersten Führer“ und „den heiligen Widerstand“, Schuld hatten immer nur die „Feinde“, - immer, wenn ich die politischen Lektionen vorlas, baten meine Eltern mich, den Text doch bitte zu überspringen.
In der einen Wirklichkeit ging es um eine neue Währung und ein zusammenwachsendes Europa. In der anderen, zur gleichen Zeit, um einen brutalen Angriff auf ein Teheraner Studentenwohnheim und Zehntausende junger Menschen auf der Straße, weil eine Zeitung vom Regime geschlossen wurde. (Fast alle der bekanntesten Gesichter dieses Aufstands 1999 leben heute im Exil, während die, die das Blutbad anordneten, Spitzenämter innehaben). In der einen meiner Welten verlor die Idee von Europa als Raum der Transparenz und des Pluralismus ihre Strahlkraft, während in der anderen meiner Welten Menschen bereit waren, für diese Ideale ihr Leben zu opfern, um an diesem Europa teilzunehmen.
In einem Teil der Welt machten Menschen aus ihrer Ablehnung einer Impfung eine Ideologie. Im anderen Teil der Welt bettelten die Menschen bei der internationalen Gemeinschaft um diese Impfung, weil der Oberste Führer sie verboten und so das Land in der gesamten Region zum Land mit den meisten Coronatoten geworden war.
In der einen Welt geht es heute darum, Menschen, die auf der Suche nach Zukunft und Menschenwürde sind, von sich fernzuhalten. Dort, wo ich jetzt arbeite – in zumeist dysfunktionalen Staaten - geht es darum, wie korrupte Eliten Menschen erfolgreich brechen und den Staat ausbeuten. Wer Rechenschaft fordert, wird abgeführt.
Aus mehreren Blickwinkeln in die Welt zu schauen, macht mir jeden Tag deutlich, wie eng die Dinge miteinander verwoben sind. Es führt unweigerlich zu einem Gedanken, der in unserer heutigen Zeit fast unterzugehen droht: Dass die, die das Glück haben, in offenen Gesellschaften zu leben, kämpfen sollten für die Freiheit jener, die in geschlossene Gesellschaften hineingeboren wurden.
Jüngst sagte ein Parlamentsabgeordneter und ehemaliger Kommandeur der iranischen Revolutionsgarden, dass es bei den Protesten der vergangenen Monate in Iran gar keine Toten gegeben habe - weil ja angeblich keiner der Sicherheitskräfte auf die Demonstranten schießen durfte. Niemand habe Mahsa Jina Amini totgeschlagen. Nun, Sie kennen das ja: Tag ist Nacht, und Nacht ist Tag, und zwei plus zwei ist fünf. Sie wollen es auslöschen, aus unserem Gedächtnis tilgen, diese ungeheuerliche Tat: die mehr als 500 Menschen, darunter Dutzende Schulkinder, die sie getötet haben, die Häftlinge, die sie nach der Haft in den Selbstmord trieben, die Demonstranten, die zu Kriegsversehrten geworden sind, weil sie mit Geschossen in Augen, Gesicht und Genitalien leben müssen. Das Regime will alles unterbinden, das an seine Verbrechen erinnert. Jedes Totengedenken ist eine existentielle Gefahr für die Staatssicherheit. Das funktioniert so seit 1979. Gräber der vom Staat getöteten werden vom Staat geschändet. Seine Hingerichteten verscharrt er heimlich im Dunkeln. Die Gräber der Exekutierten dürfen keine Namen tragen, wer sie besucht, wird observiert von Kameras in jeder Ecke des Friedhofs, und verfolgt. Die bittere Ironie dabei ist, dass dieser Staat den Mord, den ein Tyrann an einem Unschuldigen verübte, – eine religiöse Erweckungserzählung - zur zentralen Legende seiner Legitimität gemacht hat. Dieser Staat ist auf dem Gedenken an seine eigenen gefallenen Kämpfer aufgebaut, die seine Revolution exportieren sollten und vom „Feind“ getötet wurden. Der Feind ist im Denken dieses Systems immer draußen, jenseits des antirevolutionären Schutzwalls. Wer im Innern das Regime an Rechenschaft erinnert, wird zu einem ausländischen Agenten abgestempelt, im Dienste des Feindes.
Dieser Staat fährt gepanzerte Fahrzeuge, Tränengas und Geschosse auf, wenn die Familien der getöteten Demonstranten Verwandte, Nachbarn und Freunde zum Friedhof einladen, um mit ihnen zu trauern und eines Staatsverbrechens zu gedenken. Er verhaftet präventiv Familienmitglieder, um alle zum Schweigen zu bringen: Väter, Mütter, Geschwister. Er tut alles, um ihnen den Alltag zur Hölle zu machen: Probleme im Job. Der Verlust des Arbeitsplatzes. Der Rauswurf von der Uni. Reiseverbote, Kommunikationsverbote, Hausarreste. Die ökonomische Auslöschung der unverschleierten Frau.
Das ist der eiserne Arm des Regimes. Dann gibt es noch den weichen Arm: er besteht aus Kultur und Unterhaltung, denn so viel rohe Gewalt muss normalisiert, muss kaschiert werden. Zum Jahrestag seiner Bluttaten bringt das Regime seine Menschen auf andere Gedanken. Es lädt internationale Fußballstars ein. Es veranstaltet Galashows in der Hauptstadt, mit den üblichen Promis, die so lächeln, als ob alles total ruhig sei - während es Hunderte Frauen allein in Teheran festnimmt, während es im Südosten des Landes auf Demonstranten, darunter kleine Kinder, schießen lässt.
Seine Cyberarmee und seine Stasi hat das Regime in den vergangenen Monaten seine Kunst der Zersetzung üben lassen: Weil Eltern ihre Gedanken vor ihren Kindern schon lange nicht mehr verheimlichen und keine Angst mehr davor haben, dass ihre Kinder zu viel verstehen und sich nicht mehr in ihrem Land einrichten können, müssen andere Methoden her. Längst geht es nicht mehr nur um den politischen Gegner. Es geht um die Masse der Bevölkerung. Seit Monaten versucht das Regime, die Gesellschaft gegeneinander aufzuhetzen. Indem es Geschäfte, Arztpraxen, ganze Einkaufszentren und Unternehmen schließen lässt, wenn sie unverschleierte Frauen tolerieren. Indem es alle Hoffnungsträger der Proteste, Oppositionelle und Aktivisten, mit Rufmord-Kampagnen überzieht, ihre Glaubwürdigkeit beschädigt, und Familien und Gesellschaft entlang bestehender Konfliktlinien regelrecht zerlegt. In einem Land, in dem jede kleinste Zusammenkunft zerschlagen wird, sollen so Misstrauen und Angst – die wichtigsten Instrumente eines Terrorregimes – sich vermehren.
Daher verwundert es nicht, dass mehr als ein Jahr nach den Protesten die Opposition unfähig ist, sich auf der Grundlage gemeinsamer Werte zusammenzufinden. Die ehemalige Studentenführerin Bahareh Hedayat, lange Jahre im Gefängnis, nun erneut in Haft, hat das auf den Punkt gebracht: Die Opposition habe immer noch nicht diese Masse an Energie, die die Gesellschaft ihr übertragen habe, in etwas Konstruktives verwandelt und der Gesellschaft zurückgegeben. Anders ausgedrückt: Die Straße hat teuer bezahlt für ihren Einsatz, und die Opposition ist kein guter Verwahrer und Treuhänder für diese Anstrengung gewesen. Das passiert also, wenn der Kampf gegen den politischen Rivalen in der Opposition wichtiger ist, als gemeinsam einen Albtraum zu beenden. Das passiert also, wenn die Opposition die Sprache der Anti-Demokraten benutzt. Wenn politische Identität wichtiger wird als der gemeinsame Kampf um die Demokratie – dann haben wir alle verloren.
Unsere ratlose westliche Außenpolitik hat keine Lehren gezogen aus dem Geschehen in Iran. Wie in anderen Ländern meines Berichtsgebiets auch unterstützt sie am Ende ein Status Quo und verfolgt ein Stabilitätsdogma – aus Angst, dass politischer Wandel weitere Unruhen bringen könnte. Sie nimmt die strukturelle Gewalt, die korrupte politische Eliten den Bürgerinnen und Bürgern antun, in Kauf. Sie könnte Bevölkerungen eine lautere Stimme geben in Verhandlungen. Sie könnte Druck ausüben auf ihre Verhandlungspartner und Rechenschaftspflicht einfordern. Sie könnte die klügsten Köpfe in diesen Ländern, aus der Zivilgesellschaft, aus Universitäten, aus Medien miteinander vernetzen. Die Eltern, die in der Beiruter Hafenkatastrophe ihre Tochter verloren haben, hoffen auf unsere Hilfe in ihrem Kampf um Rechenschaft. Die Menschen in Libyen, die fast ihre ganze Familie verloren haben in der Flutkatastrophe von Derna, hoffen auf unsere Hilfe in ihrem Kampf um Rechenschaft. „Wir wollen einen Rechtsstaat in Libyen und keinen Staat der Stämme“, schreiben sie. Die Menschen in Irak hoffen auf unsere Hilfe, damit Öl-Milliarden nicht in korrupten Händen verschwinden und das Land endlich Wasser und Strom, ein Gesundheits- und Bildungssystem hat.
Wollen wir weiter korrupte Eliten stärken, Bürger schwächen - und so weitere Flüchtlinge schaffen? Mutet es nicht seltsam an, nach diesem Jahr des Tötens in Iran, dem Präsidenten des Landes – der einst in einer Justizkommission Tausende Hinrichtungen politischer Gefangener mitzuverantworten hatte – den roten Teppich vor den Vereinten Nationen in New York auszurollen? In seinem Tross hätte einer gar nicht einreisen dürfen, er war mit Sanktionen belegt, ein weiterer hatte die Erstürmung der britischen Botschaft in Teheran angeführt. Nichts Grundlegendes hat sich in unserer Iran-Politik geändert. Im Gegenteil, das Regime wurde belohnt, und seine Geiseldiplomatie hat sich jüngst wieder gut bezahlt gemacht, mit einem Milliardendeal. Viele Kommentatoren sind überrascht, dass der iranische Präsident auf dieses erneute westliche Zuvorkommen, diese erneuten Geschenke, nun mit einer aggressiven Rede in der UN-Generalversammlung reagierte. Ich kann über die Überraschung jener, die jetzt eine ganz andere Rede, ja einen Abbau der Spannungen erwartet hatten, nur noch den Kopf schütteln. Wer überrascht ist, will weder die Natur dieses Regimes erkennen, noch die Konsequenzen sehen, die die fortdauernden Kriegszüge der iranischen Machthaber in Irak, Syrien, Jemen, Libanon mit sich bringen. Ich erinnere an die Säuberungen dieses Regimes in Syrien gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen. Ich erinnere an mehr als 600 tote irakische Demonstranten – sie alle demonstrierten im Irak gegen die Hegemonie des iranischen Regimes, gegen die Korruption, die eine solche Hegemonie mit sich bringt – und bezahlten dafür mit ihrem Leben.
Der Zusammenhang zwischen Despotismus und Krieg ist wohlbekannt. Eleanor Roosevelt, die 1948 der UN-Kommission vorsaß, die die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ausarbeiten sollte, schrieb damals: „Viele von uns dachten, dass der Mangel an Menschenrechtsstandards auf der Welt eine der größten Ursachen für Spannungen zwischen den Nationen war. Und dass die Anerkennung der Menschenrechte eines der Fundamente für den Frieden werden könnte.“ Für den größten Menschenrechtler der Sowjetunion, Andrej Sacharow, war diese Verbindung zwischen Menschenrechten und Frieden zentral. Auch in der Schlussakte von Helsinki steht es: dass die Achtung von Grundfreiheiten ein wesentlicher Faktor für den Frieden ist. Nur ein Staat, der Menschenrechte im Innern achtet, achtet das Völkerrecht nach außen. Freiheit und Gleichheit der Bürger, Freiheit und Gleichheit der Staaten.
Als ich in Moskau lebte und arbeitete, wurde mir dieser innere Zusammenhang umso deutlicher: Je rigider die Repression im Innern durchgesetzt wurde, umso aggressiver trat Vladimir Putins Regime im Ausland auf. Der erste Überfall auf die Ukraine folgte auf die Zerschlagung der Demonstrationen gegen eine dritte Amtszeit Wladimir Putins. Weil aber der Unrechtsherrscher nicht gerne selbst als Brecher des Rechts erscheint, verbrämte er seine erste ukrainische Landnahme mit immer neuen fantastischen Erzählungen – Erzählungen, die keine Fakten waren, aber in westlichen Medien großen Erfolg hatten. Wirkung und Ursache, die Opfer und die Brandstifter – alles verschwamm nach und nach in einem dicken Nebel in den Köpfen. Es half nicht, dass der Aufklärung verpflichtete Medien zu oft eine Haltung jenseits von Recht und Unrecht einnahmen – unsere eigene Existenz beruht doch auf dem Prinzip des Rechts! Es half nicht, dass all die Jahre, bis wenige Stunden vor Wladimir Putins zweiter ukrainischer Invasion, noch viele an die Rituale der Dialog- und Entspannungspolitik glaubten. Sie ernteten das Gegenteil. 2022 war eine self-fulfilling prophecy, und unsere Politik hat ihren Anteil an einer Fehleinschätzung immer noch nicht aufgearbeitet.
Manche werden jetzt sagen, ja so im Nachhinein lasse sich ja schön reden, und es sei gar nicht so gewesen, dass man es hätte wissen müssen, so einfach sei das nicht. Glauben Sie mir: Als ich ein Jahr lang für ein Buch über Putins Russland alle Informationen zusammentrug, die die Fieberkurve der Repression und Verdunkelung in Russland belegen sollten, war ich klüger als nach fünf gelebten Jahren in Russland. Wer wissen wollte, wusste, was kommen wird. Allen, die sich historisch mit Russland beschäftigen, war es noch viel früher klar, was uns sehr wahrscheinlich erwartet.
Nun aber sollen wir pragmatisch sein und uns damit abfinden, dass Macht Macht ist, Ansprüche auf fremdes Eigentum und Land gleichsam gottgegeben sind und das Recht die Macht nicht beschränken darf. Wir sollen uns mit dem Unrecht abfinden und resignieren - um des Friedens willen. Eine alte Forderung übrigens - sie kam nicht erst auf, als Russland die Ukraine überfiel und einige sich hierzulande in sogenannten „Friedensdemonstrationen“ übten. In den 1980ern hieß es, dass eine „Abstrafungspolitik keinen sowjetischen Soldaten aus Afghanistan herausbringe", oder dass die Amerikaner „spätestens seit Vietnam das Recht auf moralische Appelle verloren" hätten. Heute wiederholt sich das alles fast gleichlautend. Wir gewähren dem Angreifer eine Einflusssphäre. Wir lassen uns lähmen von diesem Denken.
Nur: Ich habe keinen Frieden erlebt, als ich in der russisch besetzen Ostukraine oder auf der Krim Menschen interviewt habe. Ich habe vielmehr die Angst dieser Menschen gesehen – Angst vor den Säuberungen und vor der Gleichschaltung. Ich habe Straflager gesehen, Folteropfer, Angehörige von Mordopfern und Gefangenen interviewt. Wenn ich heute in Deutschland höre: „Lieber in einer Diktatur leben als für Demokratie zu sterben“, dann schäme ich mich zutiefst vor diesen Opfern der Diktatur.
Es gibt zwei Jahre, die fast alles in meinem Leben verändert haben. Das Jahr der Emigration, 1980. Und das Jahr 2014, das Jahr der Krim-Annexion. Beide Male verfiel meine Welt einem Wahnsinn, zerstritten sich Menschen in meinem Umkreis, wurde der Boden unter meinen Füßen wacklig, und ich kam mir vor wie ein Geisterfahrer. 2014 führte mir noch einmal vor Augen, dass es keine endgültige Sicherheit für Menschen wie mich gibt, wenn die Dinge ins Kippen kommen. Wenn die Rezipienten unserer Berichte, die uns zuschauen, uns lesen, in der Demokratie plötzlich die gleiche Sprache sprechen wie die Manipulationskünstler und Ideologie-Produzenten der Diktatur. Mein Erschrecken darüber hört nicht auf. Ich erschrecke, wenn ich sehe, dass den Feinden von Menschenrechten und Demokratie Raum gegeben und oft nur stumm zugehört wird, in Medien, in der Öffentlichkeit – ohne echte Widerrede, ohne das Auseinandernehmen ihrer Positionen, ohne einen politischen Streit, der die Gefahr ihrer Sätze deutlich macht. Wir behandeln sie, als ob ihre Haltung eine von vielen möglichen Haltungen ist – statt den Konflikt mit ihnen aufzunehmen. Wo sind heute die, die am 9.Oktober 1989 in diesem Raum einer Predigt zuhörten, die Martin Luther Kings Kampf gegen Diskriminierung zum Ausgangspunkt des eigenen Kampfes machte? Wo sind die, die damals eine gerechtere Welt wollten? Warum stehen sie nicht auf, wenn sie sehen, dass unsere Weltordnung sozial nicht haltbar, nicht nachhaltig ist? Mir kommt es manchmal so vor, als ob sie damals das alte Denken abgestreift haben – ohne die neuen Werte wirklich anzunehmen – oder ohne an einem für beide Seiten neuen ethischen Denken zu wirken, dessen Impulsgeber sie hätten sein können.
1948 ist heute weit weg. Das Jahr, als die universellen Menschenrechte erstmals kodifiziert wurden, als Lehre aus einem Vernichtungsstreben und aus einem höllischen Krieg. Die EU sägt seit Jahren an dem Recht, auf dem sie sich selbst gründet. Sie setzt das Rechtsprinzip aus, wenn sie mit nordafrikanischen Autokraten verhandelt. Kein Wort dazu, wie diese Autokraten Menschenrechtler verhaften, Migranten und Asylsuchende misshandeln. Kein Wort. Zugleich reden die EU-Institutionen und Vorsitzenden der großen Parteien den Demagogen der extremen Rechten nach – statt sichere, legale Fluchtwege für eine geordnete Migration zu schaffen und in Integration zu investieren. Wer das Rechtsprinzip aussetzt für eine Menschengruppe, braucht sich nicht zu wundern, dass Frauen, dass Minderheiten angegriffen werden, dass EU-Mitglieder Rechtsstaatsprinzipien, auf denen wir uns gründen, einfach umgehen.
Seit Jahren bekomme ich Mails oder Kommentare, die mich drängen, meine Arbeit doch bitte einzustellen. Was bräuchten wir Meldungen über die Ungeheuerlichkeit einer Diktatur – die Diktatur in Deutschland sei viel schlimmer, hierzulande gebe es genug Probleme, also Schluss mit der Auslandskrisen-Berichterstattung. Offenbar brauchen diese Briefeschreiber nicht nur eine Mauer im Mittelmeer sondern auch eine Mauer im Kopf. Selbst der Blick auf das Leid, der Bericht der Chronistin über die immer instabilere Welt soll unterlassen werden. Die Bilder und Stimmen dieser Menschen scheinen viele zu stören – so wie sie übrigens die korrupten Autokraten stören, die sie regieren. Warum Menschen flüchten, soll nicht gezeigt werden. Man braucht offenbar mal eine Pause vom Leid derer, die Terror, Krieg, Armut erleben. Lieber nicht zeigen, wie komplex diese Welt ist. Ich nenne das Realitätsverweigerung. Ein Land, das man wie einen Container abschließen kann, gibt es nicht. Die Realität holt Sie ein, wenn Sie das denken. Sollten wir nicht spätestens in 2022 gelernt haben, dass wenn wir uns nicht mit der Welt beschäftigen, die Welt sich mit uns beschäftigt?
Wenn der Respekt für das Recht verlorengeht, siegt das Recht des Stärkeren, siegt die Gewalt. Sie kennen die Ergebnisse der diesjährigen Mitte-Studie. Die Autoren sehen im Zustand einiger Teile unserer Gesellschaft keine harmlose Politikverdrossenheit mehr. Die Abwendung von Demokratie und Solidarität gehe zunehmend einher mit der Billigung von Gewalt, schreiben sie. Erschreckend viele Politiker glauben, diese Gefahr könne eingedämmt werden, wenn sie so sprechen wie Anti-Demokraten.
Doch die Wahrheit ist: Anti-Demokraten und Autokraten sind längst im Kampf-Modus. Wer ihre Sprache spricht – kämpft an ihrer Seite. Sie wollen die Macht. Sie wollen die Demokratie zerstören. Dafür haben sie ihre Sprache ausgearbeitet, sich strategisch positioniert. Sie nutzen die Freiheit zur Systemkritik – um das politische System zu zersetzen. Sie haben ein klares Lehrbuch, von Texas über Budapest bis Thüringen. Wie lautet die Strategie der Mehrheit, die zu Demokratie und Gleichheit aller Gruppen steht? Wo kämpft sie? Wie streitet sie? Wo demonstriert sie? Wie wichtig ist ihr Demokratiebildung?
Der 9.Oktober war ein Wendepunkt. Mehr als siebzigtausend Menschen kamen hier zusammen und folgten ihrem inneren Bedürfnis nach Frieden, Freiheit, Demokratie. Sie vertrauten auf das Leben und folgten diesem Bedürfnis mit einer Innerlichkeit, von der wir uns heute entfernt haben. Unsere Zeit verlangt, an diesen Moment anzuknüpfen. Die Debatte – die so schnell zu Ende geglaubte Debatte von damals - wieder aufzunehmen. Sich dem Schmerz zu stellen. Und zu vollenden, was begonnen wurde.