Wolfgang Templin: Rede zur Demokratie Leipzig, Nikolaikirche, 9. Oktober 2015
Es ist ein bewegendes, schwer zu beschreibendes Gefühl für mich, hier in diesem Moment, an diesem Ort zu stehen und zu Ihnen, zu euch zu sprechen. In Erfurt, Weimar und Leipzig verbrachte ich das letzte Wochenende, vor meiner Verhaftung am 25. Januar 1988. Als Mitglied des Berliner Teils der Initiative Frieden und Menschenrechte, traf ich mich mit Mitstreiterinnen und Mitstreitern aus verschiedenen Gruppen der Opposition. Ich sehe das damalige Leipzig vor mir, es war ein grauer, verhangener Wintersonntag, wir saßen zusammen, diskutierten, gingen nach draußen und liefen an der nebligen Pleiße entlang.
Viel ging dem voraus und viel folgte dem, was die kleinen, isolierten Friedens- Umwelt- und Menschenrechtsgruppen in der DDR zur politischen Opposition werden ließ, die koordiniert handelte und schließlich zur hunderttausendfachen Bürgerbewegung anwuchs. Nach der Verhaftung von Berliner Oppositionellen im Januar 1988 gelang es der Staatsmacht noch, eine Reihe von Ihnen durch Druck und Erpressung aus der DDR zu treiben. Ein Jahr später im Januar 1989, scheiterte der gleiche Versuch in Leipzig. Mitglieder der Initiative zur „demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft“ nahmen erneut das Gedenken an Rosa Luxemburg zum Anlass für ein öffentliches Auftreten. Wieder kam es zu Verhaftungen. Durch die Standhaftigkeit der Inhaftierten, die Stärke der folgenden Proteste und die internationale Solidarität, mussten sie in die DDR entlassen werden. Ein Sieg der Opposition, der die Welle der Leipziger Proteste von Woche zu Woche weiter anschwellen ließ. Menschen die das Land verlassen wollten, schlossen sich mit Menschen zusammen, die ihren Protest mit dem trotzigen „Wir bleiben hier“ verbanden.
Es war Leipzig, dass zur Wiege der Friedlichen Revolution des Herbstes wurde. Hier auf dem Ring, am 9.Oktober, kam es zur entscheidenden Kraftprobe mit der waffenstarrenden Macht des SED-Regimes. Hier siegten der Mut und die Entschlossenheit der friedlichen Demonstranten und zwangen die verunsicherten und kopflos gewordenen zivilen und militärischen Vertreter der Macht zur Kapitulation. In Leipzig, auf dem Leipziger Ring und hier in der Nikolaikirche wurde vor sechsundzwanzig Jahren Geschichte geschrieben. Die Massenproteste in Leipzig und anderen Städten und Orten mündeten in die friedliche Herbstrevolution von 1989, welche die Öffnung der Mauer in Berlin erzwang. Sie waren Teil eines Flächenbrandes, der alle Länder des Ostblocks erfasste die nationalen Befreiungsbewegungen im Innern der Sowjetunion selbst vorantrieb, so im Baltikum, Georgien und der Ukraine. In einer Kette von „demokratischen Revolutionen der Jahre 1989/90 siegte die Freiheit über die Tyrannei“, hält ein Aufruf der Initiative „Tag der Friedlichen Revolution – Leipzig 9. Oktober“ fest. Der eiserne Vorhang fiel und Europa konnte nach Jahrzehnten der Teilung und Spaltung endlich wieder zusammenwachsen. Die Botschaft von Leipzig wirkte über Europa hinaus überall dorthin, wo Unterdrückung, Unfreiheit und Teilung weiter das Leben von Menschen bestimmen. Aus Unrechtsregimen, Ländern wo Terror wütet, Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten, wie in Eritrea und Syrien flüchten Menschen zu uns und suchen hier Schutz.
Es ist ein wunderbares Symbol, wenn in diesen Tagen Christoph Wonneberger, Gisela Kallenbach, Oliver Kloss und andere Leipziger ehemalige Oppositionelle an einer Fahrradtour entlang der Nord- und Südkoreanischen Teilungsgrenze teilnehmen.
Der polnische Staatspräsident Bronislaw Komorowski sprach am 10. September 2014, aus Anlass des 75. Jahrestages des Beginns des Zweiten Weltkrieges vor dem Deutschen Bundestag. Seine Rede hatte historisches Gewicht und war dem Wunder des Deutsch-Polnischen Versöhnungsweges gewidmet, des „kopernikanischen Umbruchs in der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen“.
Er würdigte mit dem Blick auf 1989 die Vorbildrolle der polnischen Solidarnosc und erwähnte Roland Jahn, der davon sprach, dass in diesem Herbst „die Solidarnosc mit uns auf dem Leipziger Ring mitmarschierte“. Der Mut der Menschen von Leipzig wirkte aber auch zurück und wurde zum Hoffnungszeichen in Polen:
„Wir in Polen verfolgten hoffnungsvoll die Gebete und Proteste vor der Nikolaikirche in Leipzig. Damals beteten wir gemeinsam mit den Menschen in der Nikolaikirche um Freiheit, um unsere gemeinsame Sache“.
Für Bronislaw Komorowski steht unverrückbar fest, welche Kräfte den Ausschlag für den guten Ausgang der Ereignisse gaben:
„Es war nicht der Sieg der Diplomatie oder der Bündnisse der Europa veränderte, es war der Wille des Volkes, der nach Freiheit dürstenden Menschen“.
Hier trat das ein, was wir mit Vaclav Havel die „Macht der Machtlosen“ nennen können.
In seiner Rede umriss der polnische Präsident das Wertefundament einer in Jahrzehnten gewachsenen demokratischen europäischen Staatengemeinschaft, zu der die Länder der friedlichen Revolutionen hinzustießen:
„Was die Europäer verbindet ist die Überzeugung, dass die Würde jedes menschlichen Lebens unveräußerbar ist.“
Diese Überzeugung kann als Personalismus „aus dem Christentum abgeleitet werden, das das Konzept eines Menschen geschaffen hatte, der sich selbst Person wahrnimmt. Er kann aber genauso auf die Tradition der Aufklärung zurückgeführt werden, wo er präzise von Immanuel Kant beschrieben wurde“. Mit diesem Wertefundament sind die Achtung der Menschen- und Bürgerrechte, der demokratische Rechtsstaat und die Achtung der Minderheitenrechte verbunden. All das muss sich in der alltäglichen Politik bewähren.
Die europäische Realität der letzten zweieinhalb Jahrzehnte vor Augen, sehen wir überdeutlich die Gefährdungen, denen sich der Wunsch und Wille nach Frieden und Freiheit stellen musste. Mitten in Europa tobte in den Neunziger Jahren ein blutiger Bürgerkrieg, wurden die Tragödie von Sarajewo und das Massaker von Srebrenica zum Zeichen des Versagens und der Handlungsunfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft. Schritte zu einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die mit großer Mühe gegangen wurden, sind die verspätete Antwort auf diese Herausforderungen.
Geteilte nationale Souveränität ist die Voraussetzung für den weiteren Ausbau europäischer Institutionen und deren Vertreter. Beim Ringen um die starke Repräsentation europäischer Außenpolitik kam es immer wieder zu halbherzigen Kompromissen. Von einer notwendigen gemeinsamen Außenpolitik sind wir noch sehr weit entfernt. Hier dominieren nationale Egoismen und Alleingänge über den Willen zu Kooperation und gemeinsamer Handlungsfähigkeit.
Wir werden häufig mit dem Argument konfrontiert, Außenpolitik könne nur als nationale Interessenpolitik realisiert werden, übernationale, idealistische Werte und moralische Ansprüche müssten hier zurücktreten. Machiavelli, Bismarck und moderne Staatenlenker werden als Vordenker und Beispiele für eine realistische, interessengeleitete Politik angeführt. Demokratische Staaten und Staatengemeinschaften sollten den Mut und die Entschlossenheit aufbringen, anderen Maßstäben zu folgen. Noch einmal Bronislaw Komorowski:
„Nur eine mutige Politik, die auf dem Fundament von Werten aufbaut, deren Kern die menschliche Würde darstellt, verdient es „Realpolitik“ genannt zu werden“.
Dem vereinigten Deutschland kommt im europäischen Integrationsprozess, eine besondere Verantwortung, ein besonderes Gewicht zu. Deutsches Weltmachtstreben, deutscher Größenwahn trugen mit dazu bei, dass Europa in die Katastrophe des ersten Weltkrieges stürzte. Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung, der Entfesselung des zweiten Weltkrieges, dem Holocaust und dem deutschen Vernichtungskrieg im Osten, ist das dunkelste Kapitel unserer Vergangenheit verbunden. Deutschland, das heißt sein westlicher Teil, erhielt nach 1945 die Chance, Teil eines demokratischen europäischen Gemeinwesens zu werden, das die historischen Lehren vorangegangener Kriege und Katastrophen ernstnahm. Nach 1989 konnte das zusammenwachsende Deutschland alle Befürchtungen von einem wiedererstarkenden vierten Reich widerlegen. Als verlässlicher Bündnispartner und stärkste europäische Wirtschaftsmacht wurde es umgekehrt mit Hoffnungen und Erwartungen seiner Nachbarn konfrontiert, dieses Gewicht verantwortungsvoll einzubringen.
Im Jahre 2011 sprach der damalige polnische Außenminister Radoslaw Sikorski in seiner Berliner Rede davon, dass er heute deutsche Macht weniger fürchte als deutsche Untätigkeit. Er forderte Deutschland auf, bei der Durchsetzung weiterer Reformen und der Stärkung europäischer Institutionen Führungsverantwortung zu übernehmen. Für große Teile der deutschen Öffentlichkeit wirkte diese Rede wie ein Schock. Wenn sich ein polnischer Außenminister so äußern konnte, zeugte das doch davon, welches Vertrauen in Deutschland gesetzt wurde, im verantwortlichen Umgang mit wirtschaftlicher und politischer Macht. Was konnten diese Worte aber für Deutschlands Beitrag zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik bedeuten? Hier herrschte die größte Unklarheit, hier standen die größten Herausforderungen noch an. Wie sollten NATO-Mitgliedschaft und eigener europäischer Verteidigungsbeitrag künftig miteinander verbunden sein? Was war vom Konzept einer künftigen europäischen Armee und Auslandseinsätzen der Bundeswehr zu halten?
2015 ist nicht nur ein Jahr des Jubiläums, der Rückbesinnung auf 1989, den deutsch-deutschen und den europäischen Vereinigungsprozess. Wir erleben alle ein Jahr, in dem die europäische Union von inneren Krisen erschüttert wird, in dem Konflikte von weltpolitischer Dimension zu Brandherden werden, in dem die damit verbundenen Herausforderungen nahezu alltäglich auf uns einstürzen. Solche Spannungen und Konflikte sind eine Probe darauf, wie ernst wir unsere Werte nehmen, ob wir bereit sind, sie nach innen und außen zu schützen und zu verteidigen. Eine Probe darauf, wem wir das Feld politischen Handelns anvertrauen und das Feld der öffentlichen Auseinandersetzung überlassen.
Wir sind mit dem Drama hunderttausender Flüchtlinge konfrontiert, die dem Krieg in Syrien zu entrinnen suchen, dem Terror des Assad-Regimes und des islamischen Staates, die vor den Taliban aus Afghanistan fliehen und aus Bürgerkriegsländern Afrikas zu uns strömen. In entscheidenden Momenten hat die Bundeskanzlerin Angela Merkel hier in Gesten, Worten und Entscheidungen Menschlichkeit gezeigt, Mut bewiesen und das Richtige getan. Ihr Beharren auf einer humanen Flüchtlingspolitik, ihre klare, Position, dass an den Verfassungsgrundlagen des Asylrechts nicht gerüttelt werden darf, verdienen angesichts der wütenden Angriffe aus ihrer eigenen Partei und der Schwesterpartei CSU, Respekt und Unterstützung. Wenn sie die Anstrengungen bei der Integration der Ankömmlinge benennt und davon spricht :
„wir können das schaffen und wir schaffen das“ dann sind das Worte, die uns alle einschließen. Die Welle der Hilfsbereitschaft und des Engagements muss und wird nicht verebben, wenn sie von einem Handeln öffentlicher Stellen und Verwaltungen begleitet wird, dass die gewohnten Bahnen verlässt und nach Wegen sucht, die der extremen Situation gerecht werden. Die Politik steht in der Pflicht, eine rationale und längst überfällige Einwanderungspolitik auf den Weg zu bringen. Humane Asylpolitik steht nicht im Gegensatz zur klaren Unterscheidung von Asylgründen und dem Einwanderungswunsch aus wirtschaftlichen Motiven. Wir sind zu einem Einwanderungsland geworden, zu dem heute Menschen verschiedener Herkunftsländer, Religionen, Hautfarben und Kulturen gehören, wie Bundespräsident Joachim Gauck am 3. Oktober unterstrich. Offenheit für Ankömmlinge verlange von Ihnen aber auch Integrationsbereitschaft, die Anerkennung zentraler Werte unserer Gesellschaft, die nicht zur Disposition stehen.
Eines ist jedoch richtig. Allein wird Deutschland der aktuellen Aufgabe nicht gewachsen sein, Europäische Solidarität und eine stärkere Verteilung der Lasten, welche auch die neuen Mitgliedsstaaten der EU einschließt, sind unabdingbar.
Hier ist es nicht so, dass wir einer geschlossenen Front der Verweigerung gegenüberstehen. Während der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, Verbündete für seine Politik der Abschottung sucht und mit Stacheldrahtzäunen rings um sein Land ein abschreckendes Beispiel gibt, ist in unserem Nachbarland Polen, die Auseinandersetzung über ein Mehr an Solidarität, in vollem Gange. Zbigniew Bujak, legendärer Führer der Solidarnosc im Untergrund und häufiger Gast in Deutschland, spricht sich vehement dafür aus, Flüchtlinge und Immigranten als Chance zu sehen. Er plädiert dafür den Ankömmlingen schnell die Möglichkeit zu geben, die Qualität unserer Demokratie, unseres öffentlichen Lebens konkret zu erfahren, Wissen zu erwerben.
Seit Monaten sind wir mit Berichten und Bildern aus Sachsen und anderen Teilen Deutschlands konfrontiert, die mich mit Kopfschütteln, Wut und Zorn erfüllen. Berichten und Bildern, die nicht zum Charakter dieses Tages und unseres Zusammentreffens hier in der Nikolaikirche passen. Vor Flüchtlingsheimen in Ostsachsen und auf Pegida-Kundgebungen in Dresden ertönt der trotzige Ruf „Wir sind das Volk“ und daneben stehen eiskalte Hassprediger, dort vermischt sich der rechte Rand unserer Gesellschaft mit sogenannten Wutbürgern, Freunden Wladimir Putins und dem netten Nachbarn von nebenan. Was treibt solche Proteste an, die sich gegen Flüchtlinge, Menschen aus anderen Kulturen, gegen „Überfremdung“ wenden und die christliche Kultur des Abendlandes bedroht sehen? Waren nicht unsere Proteste damals, auf das Engste mit der Frage nach dem Gehen oder Bleiben verbunden, eine Frage welche über die eigene Existenz bestimmte; forderten wir nicht Toleranz und Respekt ein, über Konfessionen und Rassen hinaus?
Jede Dialogbereitschaft hat ihre Grenzen und wer in Dresden skandiert: „Merkel nach Sibirien – Putin nach Berlin“ muss sich klarmachen, in welche Gesellschaft er sich damit begibt.
Ein Leipzig, das stolz ist auf 1989 und ein Sachsen dem ich mich verbunden fühle, sehen anders aus.
Wieso kann ein offenkundiger Volksverhetzer wie Lutz Bachmann, in Dresden immer noch die Tribüne öffentlicher Demonstrationen besetzen, Anhänger und Mitläufer zur Gewalt aufstacheln? Einer Gewalt, die sich klammheimlich, im Schutz der Nacht in Brandsätzen entlädt. Für Brandstifter, Volksverhetzer und Rassisten kann es nur die Antwort der Polizei, der Strafverfolgungsbehörden und der Justiz geben. Wie es um deren Arbeit in Sachsen teilweise bestellt ist, zeigten die ersten Auftritte des Innenministers und anderer Verantwortlicher. Hoffentlich sind hier entschiedene Änderungen auf dem Wege.
Die Forderung nach Konsequenzen und einem konsequenten Vorgehen gegen Feinde der Demokratie, darf den Dialog und die Auseinandersetzung mit all denen nicht in Frage stellen, deren Ängste und Verunsicherung zu verstehen und ernst zu nehmen sind. Das abendliche Lichterfest ist unter die Losung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gestellt. Zu den Grundwerten, von denen ich sprach, gehört auch soziale Gerechtigkeit, gehört ein politisches Handeln, dass mit aller Energie Chancengleichheit und sozialen Ausgleich in unserer Gesellschaft befördert. Daran hat es in Deutschland in den letzten anderthalb Jahrzehnten spürbar gefehlt, bei allen gegenteiligen Beteuerungen. Ein Niedriglohnsektor, der trotz Mindestlohnregelungen weiter wächst, ausufernde Formen des Prekariats, ungleiche Bildungschancen und eine vor allem in den neuen Bundesländern steigende Altersarmut, sind die Folgen davon. Demagogen und Populisten am rechten und linken Rand des politischen Spektrums, sehen hier ihre Chancen.
Gewerkschaften, Sozialverbände und Kirchen, die in Deutschland auf soziale Schieflagen aufmerksam machen und Alarm schlagen, unterstreichen in ihren Erklärungen und Stellungnahmen, dass entscheidende Lösungsansätze für diese Fragen nur auf europäischer Ebene zu finden sind.
Dazu gehört der Umgang mit den Folgen der Finanzkrise - wer soll letztendlich die Zeche für ausufernde Spekulationen und die nachfolgende Rettung der Banken bezahlen? Wann greift hier das Verursacherprinzip?
Bisher ist eine wirksamere Bankenkontrolle und Bankenregulierung auf halbem Wege stecken geblieben. Wie kann und soll ein wirksamer Lastenausgleich zwischen reicheren und ärmeren Ländern Europas funktionieren? Ist er überhaupt möglich und soll er angegangen werden? Was ist mit gemeinsamen Sozialstandards und den Chancen für eine koordinierte Steuerpolitikpolitik, eines der wirksamsten Instrumente sozialen Ausgleichs. Martin Schulz, der Vorsitzende des Europäischen Parlaments sprach aktuell vor Gewerkschaftern in Paris darüber, dass dem globalisierten Kapital nur auf europäischer und internationaler Ebene wirksam begegnet werden könne.
Das Beispiel Griechenland hat gezeigt, wie weit die Vorstellungen über die Ursachen einer solchen Staatskrise und den Rettungsweg, auseinandergehen. Es hat aber auch gezeigt, dass alle Beschwörungsrufe vom bevorstehenden Ende des Euro verfehlt sind, dass es gelingen kann, in schmerzhaften Auseinandersetzungen zu Kompromissen zu kommen. Ein Grexit, hätte nur den Gegnern des europäischen Einigungsweges genutzt.
Von der Flüchtlingskatastrophe, der Kriegsgefahr im Nahen Osten, dem Wüten des Islamischen Staates und der Griechenlandkrise wurde in den letzten Monaten nahezu die gesamte Aufmerksamkeit der deutschen und der europäischen Öffentlichkeit absorbiert.
Die Ereignisse im Osten unseres Kontinents, die Fortsetzung des russischen Aggressionskrieges gegen den Nachbarn Ukraine und das hunderttausendfache Elend der Flüchtlinge dort, gerieten weitgehend aus dem Fokus der Öffentlichkeit. Seit den letzten größeren militärischen Konfrontationen und den Minsk II – Waffenstillstandsvereinbarungen im Februar dieses Jahres, veränderte die russische Seite ihre Taktik. Sie führt seitdem einen hybriden Krieg und erhält die separatistisch-terroristischen Regime im Osten der Donbassprovinzen Donezk und Luhansk mit massiver logistischer und finanzieller Unterstützung am Leben. Mehrere tausend Angehörige nicht gekennzeichneter regulärer russischer Spezialeinheiten bilden dort das Rückgrat der militärischen Präsenz der Separatisten. Über die unkontrollierten Grenzübergänge nach Russland strömt kontinuierlich der Nachschub an schwerem Militärgerät und Logistik. Im ukrainisch kontrollierten Osten des Landes, in Städten wie Charkiv und Odessa sind Diversionskommandos unterwegs, die mit Attentaten und Bombenanschlägen, für Verunsicherung und Panik sorgen. Die für die Einhaltung des Waffenstillstandes eingesetzten OSZE-Beobachter, können ihrer Mission in den Separatistengebieten nicht wirklich nachkommen, werden behindert und bedroht.
Von den entscheidenden Vereinbarungen des Minsk II Abkommens ist noch kaum etwas realisiert worden. Sie sollen bis zum Jahresende in Kraft treten, sehen die Sicherung der territorialen Integrität der Ukraine, einen hohen Autonomiestatus für Teile des Donbass, den Abzug bewaffneter Söldner und die vollständige Kontrolle der Außengrenzen durch die Ukraine vor. Wenn sich erweist, dass sich die russische Seite nicht an die Vereinbarungen hält, ist eine Fortsetzung und Verschärfung der Sanktionen, die einzig angemessene Antwort. Wladimir Putin will die Ukraine dauerhaft schwächen und destabilisieren. Er setzt auf ein Nachgeben der europäischen Seite, auf eine Entwicklung , welche die Separatistengebiete im Donbass als Teil eines eingefrorenen Konfliktes erhält ,als Pseudostaaten von Moskaus Gnaden, nach dem Muster Transnistriens sehen würde.
Dem kann man außer Sanktionen auch mit politischen und diplomatischen Mitteln entgegenwirken.
Im nächsten Jahr übernimmt Deutschland den Vorsitz in der OSZE und kann mit aller Autorität und Energie darauf drängen, die Ausstattung und die Arbeitsmöglichkeiten der Beobachtermission zu verbessern, sie zu einer robusten Mission zu machen. Für die jetzt auf das nächste Jahr verlegten Regionalwahlen, muss eine internationale Wahlbeobachtung gesichert , Scheinwahlen nach dem Vorbild der Krim, dürfen nicht akzeptiert werden.
Trotz der Belastungen des Verteidigungskrieges und der Situation der Binnenflüchtlinge, stellt sich die Ukraine, anders als in den Zeiten davor, ernsthaft den schwierigen Reformaufgaben. Dafür stehen vor allem Kräfte, die auf dem Maidan für den Weg der Ukraine in die Europäische Gemeinschaft stritten. Sie brauchen die Unterstützung Europas, humanitäre Hilfe und die aktive Begleitung der Reformprozesse. Wenn wir die Ukraine im Stich lassen, verraten wir unsere eigenen Werte. Vor allem setzen wir dann unser eigenes europäisches Integrationswerk aufs Spiel.
Wladimir Putin geht es nicht nur um die Ukraine. Sein Hauptziel ist die Schwächung und Desintegration des europäischen Projektes, eine Spaltung Europas. Wie er und die russischen Machteliten dabei vorgehen, beschreibt der Historiker Timothy Snyder eindrucksvoll. Russland umwirbt Klientelstaaten wie Ungarn innerhalb der EU und versucht neue hinzuzugewinnen. Zu ihnen zählen Zypern, Griechenland, Bulgarien, Serbien, Österreich, die Tschechische Republik und die Slowakei. Separatistische Bewegungen innerhalb der EU, wie Ukip, nationalpopulistische und rechtsextreme Parteien, die für eine Schwächung der EU eintreten, wie Jobbik in Ungarn und der französische Front National, werden massiv unterstützt. Europäische Faschisten und Neonazis tummelten sich als Beobachter auf Volksabstimmungen, welche die Besetzung und Abspaltung der Krim legitimieren sollten. Sie sind regelmäßige Gäste auf Veranstaltungen und Kongressen in Russland und üben den Schulterschluss mit der dortigen nationalistischen und rechtsradikalen Szene.
Eine Schwächung, eine Spaltung der europäischen Seite ist das übergeordnete Ziel Putins. Darin eingeschlossen ist die Abwendung von unseren amerikanischen Verbündeten. Lassen Sie mich, eine Leipziger Impression anfügen. In diesem Frühjahr nahm ich im hiesigen Haus der Geschichte an einer Diskussionsveranstaltung teil, die dem Krieg in der Ukraine gewidmet war. Der dort mit mir auf dem Podium sitzende und seit langem in Deutschland lebende Andrew Denison,Vertreter eines transatlantischen Think- Thanks wurde von Teilen des Publikums behandelt, wie der Vertreter einer feindlichen Macht. Es gab keine Krise und keinen Konflikt und Krieg der letzten Jahrzehnte , an denen man den USA nicht die Hauptschuld zuschob. Natürlich hätten sie auch den Kiewer Euromajdan organisiert. Auf die höhnische Frage, wie er sich denn die Entwicklungschancen für eine unabhängige Ukraine vorstellen könne, nannte Andrew Denison, das ihm vertraute Beispiel Leipzigs, nach 1989. Einigen Beifall hatte er damit auf seiner Seite.
Bei aller notwendigen und berechtigten Kritik an politischen und militärischen Alleingängen, Geheimdienstpraktiken, der Arroganz einer Supermacht, gegenüber Verbündeten, ist das unsägliche „Ami go Home“ dass jetzt wieder häufiger zu hören ist, durch nichts zu rechtfertigen. Wir kennen die Geschichte gut genug, um zu wissen was wir der Amerikanischen Präsenz in Westeuropa und Deutschland verdanken. Forderungen nach europäischen Alleingängen, einer Schwächung der NATO und der transatlantischen Beziehungen gehen in die falsche Richtung und nützen wiederum nur dem Moskauer Streben nach Dominanz in Europa.
Wie gefährlich hier falsche Entscheidungen sein können und von welchen Seiten die Gefahr drohen kann, zeigt die jüngste Entwicklung im Syrienkrieg.
Wladimir Putin ist seit Jahren der verlässlichste Verbündete des syrischen Massenmörders Assad, und stützte ihn mit massiver Militärhilfe. Um dessen Macht zu verlängern und das eigene Einflussfeld auszudehnen, lockt er den ratlosen Westen mit einer Militärkoalition. Nach dem Muster der Besetzung der Krim, wurden vollendete Tatsachen geschaffen. Die ersten Luftschläge , trafen mehrheitlich statt des Islamischen Staates die kämpfende säkulare syrische Opposition, den Hauptgegner des Tyrannen Assads. Putin hofft darauf, dass im Schatten des Syrienkonfliktes die Ukrainefrage zurücktritt und will den Westen zu einer Transnistrienlösung für den Donbass verführen.
Der Bürgerrechtler Werner Schulz, brachte in einer Fernsehdebatte die Gefahren des derzeitigen russischen Systems und den Charakter seines Führers deutlich auf den Punkt. Er nannte Wladimir Putin einen notorischen Lügner und Kriegstreiber. Mit der Verantwortung für Angriffskriege hätte er sich endgültig auf die Seite historischer Verbrecher gestellt. Mit ihm könne und dürfe man keine Bündnisse schließen. Er erntete dafür scharfen Protest, den Vorwurf der Russlandphobie und Politikunfähigkeit. Dieser Vorwurf wurde auch mir schon gemacht und ist genauso abwegig, wie der an Werner Schulz gerichtete.
In den Zeiten als DDR-Oppositionelle fühlten wir uns den Vertreter des besseren Russlands, den russischen Demokraten verbunden, die den Preis für ihre Proteste gegen die sowjetischen Panzer in Prag, gegen Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land, für die Rechte unterdrückter Nationen, in Gefängnissen und Straflagern bezahlten. Ihre Texte und Bücher wanderten bei uns von Hand zu Hand, wo es nur immer ging, nahmen wir Kontakt zu Ihnen auf, solidarisierten uns mit Ihnen und protestierten gegen Verhaftungen. Neben der Solidarnosc hatten wir hier eine entscheidende Lektion osteuropäischer Geschichte, die uns den fundamentalen Unterschied zwischen dem russischen System und einer Minderheit kritischer Menschen darin, nicht vergessen ließ.
Einen anderen Umgang mit Geschichte im heutigen Deutschland, konstatiert der Historiker Gerd Koenen, ein langjähriger, enger Mitarbeiter von Lew Kopelew:
„Ja, die stets beschworenen Lektionen der Geschichte ! Wie glatt das geht, dass ein Gutteil der so geschichtsbewussten Bundesdeutschen bereit ist, dem heutigen Russland eine Sicherheits- und Einflusszone zuzugestehen, die in etwa dort verläuft, wo Ribbentropp für Hitler und Molotow für Stalin im August 1939 die Landkarte des östlichen Europa vom Baltikum quer durch Polen bis nach Rumänien geteilt haben“.
Unser Platz sollte an der Seite der russischen Zivilgesellschaft sein, die wie Memorial um ihr Überleben, um ihre letzten Freiräume kämpft, an der Seite der russischen Schriftsteller, Künstler und Intellektuellen, welche die sie umgebende Wirklichkeit von Chauvinismus, Hass und Geschichtsvergessenheit, eindrücklich beschreiben und dagegen anzugehen suchen.
Einer von Ihnen, der belarussischen Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch, wurde gestern der Literaturnobelpreis verliehen. In ihren Büchern spürt sie in individuellen Schicksalen, der Gewaltgeschichte der Sowjetunion und dem Leben in den Trümmern des Sozialismus nach. Sie beschreibt die Moskauer Atmosphäre des Frühjahrs 2014, kurz nach der Annexion der Krim:
„Die Sprache der Gewalt durchtränkt das ganze Leben… Die roten Fahnen sind wieder da, der rote Mensch ist wieder da. Alles erweist sich als quicklebendig. Fünfzehn Jahre hat Putin daran gearbeitet… Der Durst, verlorenes Land zurückzugewinnen, kann Millionen Menschen um den Verstand bringen“.
Ich würde mir wünschen, dass sich die Träger und Veranstalter der Leipziger Tage entschließen, im nächsten oder übernächsten Jahr eine Vertreterin oder einen Vertreter des demokratischen Russlands zu dieser Demokratie-Rede einzuladen. Solch eine Einladung wäre ein Zeichen, würdig der Revolutionsstadt Leipzig.
Russische Menschenrechtler und Oppositionelle harren unter schwierigsten Bedingungen im Land aus oder wurden in die Emigration gezwungen, leben unter uns in Deutschland oder in der Ukraine und unterstützen dort den schwierigen Weg der Durchsetzung von Reformen. Ihre Vision eines künftigen starken, demokratischen Russlands, dass seine imperiale Last endgültig abgeworfen hat, dass den eigenen Weg seiner europäischen und außereuropäischen Nachbarn respektiert und mit ihnen friedlich kooperiert, sollte uns ermutigen. Einem solchen Russland könnten wir vertrauen und es als wichtigen Partner und Verbündeten schätzen. Bis dahin wird es ein weiter Weg sein. Auf allen Stationen dieses Weges gilt von 1989 her eine Losung der Dekabristen aus den Zeiten polnischer Teilung:
„Für unsere und eure Freiheit“
Zur Freiheit gehört die Solidarität. Lassen Sie uns dafür eintreten und kämpfen.