9. Oktober
Am Abend des 9. Oktober demonstrierten nach den Friedensgebeten trotz großer Angst vor bewaffneten Auseinandersetzungen über 70.000 Bürger auf dem Leipziger Ring gegen das SED-Regime. Die bereit stehenden 8.000 Polizisten, Angehörige der Kampfgruppen und auch Soldaten der NVA kamen nicht zum Einsatz. Die infolge des 17. Juni 1953 geplanten und danach immer perfekter vorbereiteten Maßnahmen waren undurchführbar geworden. Die Sicherheitsorgane standen nicht, wie sie sich jahrzehntelang eingeredet hatten, einer Hand voll Rädelsführern und Handlangern“ gegenüber, die von „reaktionären imperialistischen Kreisen“ ferngesteuert wurden, sondern großen Teilen der Bevölkerung. Tausende Bürger wagten zu artikulieren, was allgemein gedacht wurde. Der wahrhaft demokratische Ruf „Wir sind das Volk“ verdeutlichte dies sowohl den Machthabern als auch ihrem Sicherheitsapparat auf ebenso einfache wie unwiderlegbare Weise. Der Schutz eben dieses Volkes war ja der offizielle moralische Anspruch der Sicherheitsorgane, auch der des Ministeriums für Staatssicherheit. In den folgenden Monaten versuchte die SED, durch das Zauberwort „Dialog“ mit den Bürgern in das lange überfällige Gespräch zu kommen. Damit sollten die Menschen vor allem von der Straße weggeholt werden. All die taktischen Manöver und Aktionen der nächsten Wochen zielten darauf, sich den ursprünglichen Machtverhältnissen wieder anzunähern, um mit gewohnten Mitteln gegen die Demonstranten vorgehen zu können. Noch bis Mitte November hatte auch Egon Krenz jeden Montag bis zu 30 Hundertschaften der Nationalen Volksarmee nach Leipzig verlegen lassen. So war der 9. Oktober ein erster Sieg über das alte Regime, der jedoch in den nächsten Wochen und Monaten verteidigt werden musste.
An den folgenden Montagen entwickelten sich aus den anfänglich unschlüssig vor der Kirche Stehenden die machtvollen Demonstrationen auf dem Innenstadtring, die in Leipzig und weit darüber hinaus die als Friedliche Revolution bezeichneten gesellschaftlichen Umwälzungen voranbrachten. Jene Hunderttausende, die Montag für Montag über den Leipziger Ring zogen, zeigten ihren festen Willen, sich nicht mit Tricks und kosmetischen Veränderungen zufrieden zu geben.
Der Sturz Erich Honeckers am 18. Oktober bewirkte keine Abnahme der Demonstrationen. Die überall angebotenen Dialogveranstaltungen wurden rege besucht, brachten aber nicht die erhofften Konsequenzen. Am 23. Oktober demonstrierten 200.000 Menschen auf dem Ring für Reformen und die Zulassung des Neuen Forums. Die Gespräche mit den Vertretern aus Partei und Staat gingen weiter. Mit den Ergebnissen waren die Bürger ebenso unzufrieden wie mit dem Tempo der Veränderungen. 250.000 bis 300.000 Menschen zogen am 30. Oktober über den sechsspurigen Innenstadtring. In strömendem Regen fand am 6. November die gewaltigste Montagsdemonstration in Leipzig statt. 400.000 bekundeten ihren Willen zur Veränderung. Transparente und Losungen forderten vor allem ein Ende des Machtmonopols der SED, das Zulassen des Neuen Forums und immer wieder freie Wahlen.
Nach dem Fall der Mauer am 9. November nahm die Zahl der Demonstranten stark ab. 150.000 demonstrierten am 13. November gegen die SED und zunehmend gegen die Staatssicherheit. Die Forderung nach der Bestrafung der Schuldigen rückte mehr und mehr in den Mittelpunkt.