1.
„Keine Gewalt“ und „Wir sind das Volk!“ gingen im Herbst 1989 als Rufe der Leipziger Montagsdemonstranten um die Welt und symbolisieren bis heute den Wunsch nach Freiheit und Demokratie. Die Entscheidung brachte am 9. Oktober 1989 die Demonstration von weit mehr als 70.000 Menschen aus allen Teilen der DDR, die sich trotz drohenden Schießbefehls friedlich dem SED-Regime entgegenstellten. Der gewaltfreie Verlauf ermutigte viele und wurde als zentrales Signal wahrgenommen. Mit der Friedlichen Revolution errangen die Menschen im ganzen Land die Freiheit. Die Bürger auf den Straßen erzwangen am 9. November 1989 die Öffnung der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze. Damit wurden die Einheit Deutschlands und die Einigung Europas möglich.
2.
2014 jähren sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum hundertsten und der Beginn des Zweiten Weltkrieges zum fünfundsiebzigsten Mal. Der Erste Weltkrieg war die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. In seiner Folge entstanden radikale gesellschaftliche Gegenentwürfe zur Demokratie: der sowjetische Kommunismus, der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus. Der Hitler- Stalin-Pakt von 1939 ermöglichte schließlich dem nationalsozialistischen Deutschland, Europa mit Krieg zu überziehen. Millionen Menschen fielen dem Rassenwahn und dem Krieg zum Opfer. Am Ende war Europa geteilt. 2014 jähren sich aber auch die demokratischen und überwiegend friedlichen Revolutionen in Mittelosteuropa gegen die kommunistischen Diktaturen zum fünfundzwanzigsten Mal. Der Zyklus der Revolutionen von 1989/90 ist ein herausragendes Ereignis der europäischen Freiheitsgeschichte. Das Ende des sowjetischen Kommunismus, des Kalten Krieges und der Spaltung Europas waren die Folge dieser umstürzenden Ereignisse.
3.
Die Revolutionen von 1989/90 eröffneten den Menschen in Mittelosteuropa den Weg zu Demokratie und Selbstbestimmung. Sie belegen die Bedeutung des Kampfes um Freiheit, individuelle Würde und Menschenrechte, der ein zentraler Bestandteil unserer europäischen Geschichte ist. Gegen jedes nationale Ressentiment war das Grundgefühl einer gemeinsamen Freiheit und Solidarität weitverbreitet. 25 Jahre nach den Revolutionen ist dieses Grundgefühl neu zu beleben, denn das Europa des Jahres 2014 ist in problematischer Verfassung. In der Diskussion über die Regulierung der Finanzmärkte, über globale Konflikte und Demokratiedefizite verliert die Idee eines Europas der Menschenrechte, der sozialen Demokratie und der Gerechtigkeit zunehmend an Strahlkraft. Es gilt, diese Idee konsequent wachzuhalten. Wir meinen ein Europa, das im Konflikt mit anmaßenden Despoten und Autoritäten und im Kampf um die Würde eines jeden Menschen und die Mitsprache aller Bürgerinnen und Bürger nach 1945 entstanden ist. Dieses Europa gibt kein Versprechen auf eine Welt ohne Widersprüche, hat aber ein solidarisches Gemeinwesen zum Ziel, das in Erinnerung seiner geschichtlichen Katastrophen zivile Wege der Entwicklung und des Fortschritts findet.
4.
Das Ringen um die Menschenrechte als Rechte, die einem jeden Menschen zustehen, ist eng mit den europäischen Freiheitstraditionen verknüpft und besitzt eine jahrhundertealte und bis heute lebendige Tradition. Dieser Kampf fand seinen Durchbruch in der Französischen Revolution. Besondere Bedeutung hatte die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die Französische Nationalversammlung am 26. August 1789. Später spielten diese Rechte in den europäischen Revolutionen von 1848/49 eine zentrale Rolle. Auf dieses Ideal des selbstbestimmten Menschen beziehen sich die europäischen Emanzipationsbestrebungen im weiten Spektrum von der Arbeiter- bis zur Frauenbewegung. Ihre weltweite Anerkennung fanden diese Rechte durch die Annahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die UN-Vollversammlung am 10. Dezember 1948. Mit den demokratischen Revolutionen der Jahre 1989/90 siegte die Freiheit über die Tyrannei. Europa ist ohne den vom Individuum ausgehenden universellen Freiheits- und Rechtsanspruch nicht mehr denkbar. Heute sind die Menschenrechte das zentrale Fundament der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 18. Dezember 2000.
5.
Das Leben im Ostmitteleuropa des 20. Jahrhunderts war über drei Generationen hinweg durch eine doppelte Diktaturerfahrung geprägt. Nach dem Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland 1945 wurde im sowjetischen Machtbereich die Errichtung kommunistischer Diktaturen gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit planmäßig vorangetrieben. Aber in allen Diktaturen gab es neben überzeugten Unterstützern und vielen Mitläufern auch Widerstand und Opposition; stets setzten sich Menschen für Demokratie, Freiheit und nationale Selbstbestimmung ein. Das gewaltsame Vorgehen gegen den Volksaufstand 1953 in der DDR, die Niederwerfung der ungarischen Revolution 1956, das Ende des Prager Frühlings 1968 und die Verhängung des Kriegsrechts gegen die Solidarnoșç-Bewegung 1981 in Polen belegen exemplarisch die Härte und Grausamkeit, mit der im sowjetischen Herrschaftsbereich das Eintreten für bürgerliche Freiheitsrechte verfolgt wurde. Die in diesen Ländern entstandenen Demokratie- und Bürgerbewegungen wie die sowjetischen Dissidenten, die polnische Gewerkschaft Solidarnoșç und die tschechoslowakische Charta 77 entwickelten in den 1980er Jahren gewaltfreie Formen des Widerstands. Die wenigen, die in den Jahren der Unfreiheit und Diktatur unermüdlich für Freiheit und Demokratie kämpften und Repressionen in Kauf nahmen, waren die Wegbereiter der Umbrüche 1989/90. Sie bildeten eine wichtige Kraftquelle für die weltweit wachsenden Oppositionsbewegungen.
6.
Das Jahr 1968 steht für einen umfassenden gesellschaftlichen Aufbruch in Ost und West. Was der Prager Frühling für die Gesellschaften des Ostblocks war, waren die antiautoritären Bewegungen für die westliche Welt. Sie erschütterten selbstgewisse Autoritäten und angemaßte Herrschaften. Später gab es auch die kritiklose Unterstützung totalitärer Regime und terroristischer Aktionen. Grundsätzlich aber markiert ihr Auftreten den Beginn einer vertieften Demokratisierung wesentlicher Lebensbereiche. Sie trugen dazu dabei, die letzten Diktaturen Westeuropas zu überwinden: das griechische Obristenregime 1973, die portugiesische Diktatur 1974 und den spanischen Franquismus 1975. Gemeinsam mit der nordamerikanischen Bürgerrechts- und Antikriegsbewegung bestärkte der Geist von 1968 aber auch die weltweite Befreiung von den Überresten der kolonialen Vergangenheit, bis hin zur Anti-Apartheid-Bewegung Südafrikas.
7.
Die heutige europäische Idee beruht auf einem geistigen und geschichtlichen Fundament. Strittig ist, welche Erinnerungsorte dazu gehören. Unstrittig positive Bezugspunkte einer europäischen Geschichtskultur bilden die griechische Philosophie und das römische Staatsdenken, Judentum und Christentum sowie die emanzipative Kraft von Humanismus und Aufklärung. In dieser Tradition von langer Dauer entstanden auf äußerst konfliktvolle Weise jene geistigen Elemente, die den Kern der politischen Identität Europas ausmachen: Rechtsstaatlichkeit, Würde des Einzelnen, kritisches Denken und aktive Partizipation am Gemeinwesen. Negativ verbindet die Europäer, dass sie über Jahrhunderte zerstörerische Kriege gegeneinander und in der Welt führten, im Zeitalter des Kolonialismus Völker und Kontinente unterwarfen, ausbeuteten und sogar Völker vernichteten. Vor allem das 20. Jahrhundert war ein Zeitraum enthemmter Gewaltanwendung und totalitärer Ideologien. Diese Gewaltgeschichte fand ihren Tiefpunkt im Zivilisationsbruch des Holocaust und dem Massensterben im sowjetischen GULag. Das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft konnte erst durch einen weltweiten Krieg erreicht werden. Der sowjetische Kommunismus wurde durch die Revolutionen der Jahre 1989/90 überwunden.
8.
Heute kennzeichnet das europäische Geschichtsbewusstsein eine Vielzahl nationaler Erzählungen. Zudem verfestigt sich eine Differenz in der historischen Selbstwahrnehmung zwischen Ost- und Westeuropa. Dieses „Doppelgedächtnis“ Europas stellt eine wirkliche Herausforderung dar. Denn bei aller Vielfalt der nationalen Geschichten sollte am Ziel eines facettenreichen gemeinsamen europäischen Gedächtnisses festgehalten werden. DerWeg dorthin ist lang und schwierig. Daher sind die Erinnerung und die Erzählung von Geschichte über nationale Grenzen hinweg eine zentrale Aufgabe. Unsere europäische Zukunft bedarf der Erinnerung der teils sehr unterschiedlichen Herkünfte.
9.
Die friedlichen Revolutionen von 1989/90 sind eine zentrale Geschichtserfahrung ganz Europas. Sie sollten zum Bestandteil eines gesamteuropäischen Bewusstseins werden. Mit dem glücklichen Ausgang der Revolutionen bleibt der Demokratie die Aufgabe, eine unvollkommene Welt zu verbessern. Der eingeschlagene Weg ständiger Veränderungen verfolgt das Ziel einer gerechten Gesellschaft in einer globalen Welt. Freiheitliche Gesellschaften kennzeichnet kein Fundamentalprotest, sondern das ständige Ringen um Gerechtigkeit und Würde.
Was wir wollen
Leipzig wurde 1989 zur Stadt der Friedlichen Revolution. Die 1989/90 erlebte Solidarität – besonders der mittelosteuropäischen Länder – und die zentrale Bedeutung der weitgehend friedlichen Umbrüche für den europäischen Einigungsprozess machen den 25. Jahrestag der Friedlichen Revolution zu einem herausragenden Datum. Er ist Anlass zu einer historischen Standortbestimmung.
• Die friedlichen Revolutionen laufen Gefahr, zu nationalgeschichtlichen Randereignissen zu werden, wenn es nicht gelingt, sie nachhaltig im Bewusstsein der Menschen und der Gesellschaften in Europa zu verankern.
• Die europäische Freiheitstradition muss deutlicher vernehmbar werden. Es braucht hierfür öffentliche Zeichen und sichtbare Orte der Erinnerung.
• Es bedarf der Entwicklung einer lebendigen europäischen Erinnerungskultur aus gemeinsamen Diskursen einer starken bürgerlichen Öffentlichkeit in einer freien Medienlandschaft. Hier sind vor allem diejenigen gefragt, für die eine zukünftige Identität Europas in der beschriebenen Freiheitsperspektive unverzichtbar ist.
• Europa ist vor allem ein kultureller und politischer Raum, der von seinen Bürgern und der Politik als solcher wahrgenommen und entwickelt werden muss und nicht auf wirtschaftliche oder monetäre Aspekte reduziert werden darf.
• Europa muss ein gewichtiger Partner für demokratische und befreiende Aufbrüche in der Welt werden.
• Von besonderem Gewicht ist die Weitergabe der Freiheitstraditionen an die junge Generation, die hierfür eigene Erfahrungsräume demokratischen Handelns benötigt. Nur wenn der europäische Geist der Freiheit und Mündigkeit in kluger und zeitgemäßer Weise den Nachgeborenen zum politischen Bedürfnis wird, besitzt Europa ein wirklich tragfähiges Fundament.